Ernst August Ferdinand Gennat – preußischer Beamter und Mörderjäger

von Gudrun Bendel

„Ihn ekelte das viele Blut! Notgedrungen hob er die umgeworfenen Stühle auf und stellte sie wieder ordentlich an den Tisch. Dann zog er die tote, junge Frau mit der klaffenden Wunde am Hals, durch das Zimmer und legte sie vorsichtig auf die Chaiselongue. Ein blutiges Messer, das zwischen den Kissen steckte, legte er in den Spülstein. Dann wischte er mit einem Küchenhandtuch, so gut es ging, das Blut vom Holzboden auf. Nervös hörte er schwere Schritte auf der Treppe. Aber nun war ja alles aufgeräumt und ordentlich. Die Tür ging auf und er salutierte vor seinem Vorgesetzten: „Herr Kommissar! Eine junge Frau - tot. Ich habe, soweit es ging, den Tatort aufgeräumt und saubergemacht!“*

Das war Polizeiarbeit um 1900! Pietätvoll räumte man den Tatort auf und machte sauber. Es gab keine Spurensicherung, keine Obduktionsberichte, keine Verhörprotokolle und schon gar keine systematische Mordermittlung.  

Aber im Berlin der 1920er Jahre gab es verheerend viel Mord und Totschlag. Die goldenen Zwanziger waren nur der schimmernde Lack auf einer sehr dunklen Metropole.  Die Straftaten in der damals drittgrößten Stadt der Welt, nach London und New York, wurden selten aufgeklärt und die Polizei in der Tagespresse verhöhnt.

Der Mann, der dem ein Ende bereitete, wurde am 1. Januar 1880 in Plötzensee geboren, in unmittelbarer Umgebung der größten Strafanstalt Preussens:  Ernst August Ferdinand Gennat.und sein Vater war der Gefängnisdirektor. Die Gennat-Biografin Regina Stürickow geht davon aus, dass Ernst schon als Schüler gerne Gerichtsprozesse verfolgte. (Interview Regina Stürickow, DLF Nova, 2020). Man darf also annehmen, dass er bereits sehr früh eine Art Gespür für Verbrecher entwickelte.

Nach einem abgebrochenen Jura Studium wurde Gennat am 01. August 1905 Kriminalkommissar im palastartigen, ziegelroten Polizeipräsidium am Alexanderplatz. In diesem Gebäude arbeitet auch der fiktive Kommissar Gereon Rath aus Volker Kutscher’s Romanserie, verfilmt in der Reihe „Babylon Berlin“.

Bereit in den ersten 20 Jahren seiner Laufbahn konnte Gennat eine hohe Aufklärungsquote aller möglichen Verbrechen aufweisen. Denn jeder war für alles zuständig in den Weimarer Polizeidezernaten. Und erst am 01. Januar 1926 wurde aus einem bis dahin improvisierenden Mordbereitschaftsdienst eine organisatorisch fest eingerichtete „Zentrale Mordinspektion“ unter seiner Leitung.

Erstaunt kann man nachlesen, dass der 1,90 m große Gennat zu seiner Zeit ein Medienstar war. Unglaublich dick und von gemütlicher Ruhe war der „Buddha vom Alexanderplatz“ ein Berliner Original. Er liebte Kuchen, am besten schon zum Frühstück und am liebsten mit Sahne. In einer Kammer neben seinem Büro im „Alex“ stand ein Bett, um dort übernachten zu können. Sein Büro war plüschig und voller Kuriositäten und seine Anekdoten und Bonmots waren sprichwörtlich. Die etwas schlampige Kleidung übersah man geflissentlich. Über Mordfälle, in denen Gennat ermittelte, berichteten die Tageszeitungen besonders gerne und ausführlich.

Seine Überzeugung war, dass „jedem Täter eine verhängnisvolle Zufälligkeit wie ein treuer Hund nachlaufe“. Diese galt es aufzuspüren. So entwickelte er einen 7-Punkte Plan, wie man sich am Tatort zu verhalten hatte. Darin stand „Wer“ am Tatort „Was“ und vor allem, in welcher „Abfolge“ zu tun hatte. Beweise wurden separat verpackt und beschriftet. Ein Novum! Gennat legte damit die Grundlagen für die klassische Spurensicherung und sorgte vor allem dafür, dass der Tatort nicht mehr durch die Polizei selbst verwüstet wurde. 

Sein nächster Coup war das sogenannte „Mordauto“: Eine umgebaute, schwarze Limousine, in der neben der Schreibmaschine für die Stenotypistin auch Klapptisch, Werkzeug, Gummihandschuhe, sowie geeignete Deckelgläser und Kartons zur Aufbewahrung von Beweisstücken eingebracht waren. Das brachte Zeit und warme Spuren.  

Gennats Mannschaft war ein weiterer Erfolgsfaktor. Er legte großen Wert darauf, die richtigen Mitarbeiter um sich zu haben. Die Kriminalkommissare die mit ihm arbeiteten, sollten „nicht nur Eignung, sondern auch Neigung besitzen“. Dienst nach Vorschrift, konnte er in seiner Truppe nicht gebrauchen.

Gerne hielt er alles schriftlich fest. So ließ er Mordfälle aus Berlin und Umgebung - später aus ganz Deutschland und auch aus dem Ausland – dokumentieren. Auf diese Weise wuchs nach und nach die weltberühmte „Zentrale Mordkartei“, die es den Beamten ermöglichte, ähnliche Fällen oder Spuren zusammenzutragen. Heute wird sie als „Zentralkartei für Mordsachen und Lehrmittelsammlung“ im Landesarchiv Berlin aufbewahrt.

Der preußische Beamte reformierte die Polizeiarbeit, indem er sie systematisierte und strukturierte. Das Ergebnis der neuen Vorgehensweisen war enorm: „Im Jahre 1931 konnte die Zentrale Mordinspektion von 114 begangenen Tötungsdelikten 108, d. h. 94,7 % aufklären.“ (Wikipedia, Ernst Gennat)

Dennoch kann man zwischen den Zeilen der Artikel, Aufsätze und Reportagen, die über ihn geschrieben wurden, etwas ausmachen, was nach einer besonderen Würdigung verlangt und meines Erachtens bislang nicht wirklich wertgeschätzt wird:  

Seine Haltung dem Täter gegenüber und seine Verhörtaktik.  

Der Kriminalpolizeirat setzte z.B. durch, dass bei Verhören nicht mehr geprügelt wurde. Er forderte vielmehr von seinen Ermittlern Ausdauer, psychologisches Einfühlungsvermögen und Vorbereitung. Ihm selbst sagte man eine enorme Beobachtungsgabe nach und dass seine Verhöre fast familiär verliefen, was dazu führte, dass die Täter sich bei ihm ausplauderten. Man möchte schlussfolgern, dass er aufgrund seiner exponierten Kindheit im engen Dunstkreis einer Strafanstalt - eine Art Gespür für den Täter, die Tat und das Motiv entwickelte. Es ist anzunehmen, dass er sich in die Täter hineinversetzen konnte.

Ende der 1920er Jahre ging ein als „Vampir von Düsseldorf“ gefürchteter Massenmörder um.

Immer wieder konnten ihm Opfer entkommen, aber er wurde nicht gefasst. Düsseldorf bat um Amtshilfe und Gennat reiste dorthin.  Letztendlich überführte zwar ein Zufall den Massenmörder Peter Kürten. Aber der Kriminalbeamte aus Berlin setzte sich erstmals mit dem Phänomen auseinander.

„Gennat hat im Zuge der Ermittlungen gegen Peter Kürten eine Art Täterprofil entwickelt“, so der Autor und Kriminalist Stefan Harbort. Er hält Gennat für den ersten Profiler der Welt. „Er ist dabei sehr innovativ vorgegangen und das, was er dort getan hat, entspricht im Wesen dem, was heute das moderne Profiling ausmacht“, schreibt Harbort. Der Autor betont, dass Gennat in seinem 1930 erschienenen Aufsatz „Die Düsseldorfer Sexualverbrechen“ als erster den Begriff „Serienmörder“ verwendete und damit prägte.

Die Methoden Gennats setzten sich durch. Bald hatte auch München ein „Mordermittlungsauto“ und Beamte von Scotland Yard kamen  nach Berlin, um zu lernen. Edgar Wallace und Heinrich Mann suchten den „Sherlock Holmes an der Spree“ als geschätzten Gesprächspartner.

Ernst Gennat stirbt am 21. August 1939 in Berlin. In den 33 Jahren seiner Polizeiarbeit klärte er 298 Morde auf.

Filmkritiker sind sich sicher, dass die Figur des Kommissar Lohmann im Filmklassiker: „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ von Fritz Lang (1931), Gennat darstellt.  

Auch in der Serie „Babylon Berlin“, spielt Gennat, dargestellt von Udo Samel, den Vorgesetzten des fiktiven Gereon Rath. Der „Buddha vom Alexanderplatz“ war eine faszinierende Gestalt und selten wurde ein Kriminalist von seinen zeitgenössischen Medien so gefeiert und taucht als mediale Figur bis in unsere Gegenwart hinein, immer wieder auf.   

* (c) Gudrun Bendel

Zum Nachlesen:

  • Ernst Gennat: Die Düsseldorfer Sexualmorde. In: Kriminalistische Monatshefte 1930, ZDB-ID 206467-4, S. 2–7, 27–32, 49–54, 79–82.
  • Ernst Gennat: Der Kürtenprozeß. In: Kriminalistische Monatshefte 1931, ZDB-ID 206467-4, S. 108–111, 130–133.
  • Interview mit Regina Stürickow; Feature zu Ernst Gennat - Eine Stunde History - Deutschlandfunk Nova 03. Januar 2020
  • Regina Stürickow: Der Kommissar vom Alexanderplatz. Aufbau Taschenbuch-Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-7466-1383-3 (Biografie).
  • Dietrich Nummert: Buddha oder Der volle Ernst. In: Berlinische Monatsschrift Heft 10/2000 www.berlinische-monatsschrift.de        
  • Volker KutscherDer nasse Fisch. Gereon Raths erster Fall. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, ISBN 3-462-04022-7