Jurybegründung und Projektvorstellung

Die Stipendiatin

 

Die Mörderischen Schwestern vergeben 2015 zum zweiten Mal ein Arbeitsstipendium für einen Kriminalroman oder eine Sammlung eigener Kriminalstorys. Aus den 72 Einsendungen (Exposé und Leseprobe) von Autorinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz entschied sich die fünfköpfige Jury, bestehend aus Mörderischen Schwestern, für das Projekt "Die Andere" von Dr. Marlen Schachinger.

Der Roman zeigt mögliche Konflikte zwischen unterschiedlichen Lebensentwürfen: Ein Paar Ende vierzig zieht aus der Stadt aufs Land und glaubt, dort eine Idylle zu finden - eine Ansicht, die die Neuankömmlinge mit einer Nachbarin, die ebenfalls aus der Stadt kommt, scheinbar teilen. Doch dann mischt sich die Nachbarin zunehmend in ihr Leben ein, bis jede Freundlichkeit wie eine Drohung wirkt. Im Lauf der Erzählung verwischen die Abgrenzungen von Kategorien wie Stadt und Land, Sein und Schein, Gut und Böse immer weiter, bis jede Zuordnung fast unmöglich wird.

Dr. Marlen Schachinger, geboren 1970, stammt aus Oberösterreich. Sie studierte Komparatistik, Germanistik und Romanistik in Wien und promovierte über die Lehr- und Lernbarkeit literarischen Schreibens. Seit 2000 veröffentlicht sie Romane, Erzählungen, Biographien und Sachbücher und wurde dafür bereits mehrfach ausgezeichnet. Als Co-Leiterin des Instituts für Narrative Kunst unterrichtet sie seit 2012 literarisches Schreiben und Literaturrezeption. 

 

Begründung der Jury

Obwohl "Die Andere" in einem beengten, privaten Umfeld spielt, öffnen sich im Sprachfluss immer wieder Fenster, die den Reichtum der Welt durchschimmern lassen. Der Rhythmus der langen Sätze schaukelt beim Lesen sanft dahin wie ein ICE durch eine Landschaft, bevor die Reisenden merken, dass sie bereits mit 300 Stundenkilometern durch einen Tunnel rasen.

Die Spannung, die durch die Sprache aufgebaut wird, zeigt sich auch in der Handlung. Das äußere Geschehen spielt sich auf einem Boden ab, der nach und nach seine Doppelnatur erkennen und ahnen lässt, wie tief die Abgründe darunter sein können. In scheinbar harmlosen Gegebenheiten spiegelt sich die Gefahr, die der Protagonistin, ihrer gesamten Existenz droht. Mit leisen Vorzeichen bricht bereits zu Beginn der Erzählung etwas Dunkles in das ländliche Idyll, in das sich die Hauptfigur mit ihrem Mann auf der Suche nach "Heilsein" zurückzieht, nachdem erschütternde Ereignisse ihr Leben verwundet haben. Diese prägenden Erlebnisse (Verlust eines Kindes, eine gescheiterte Liebesaffäre) werden in geschickten, wie beiläufig eingeflochtenen Rückblenden nähergebracht. Die Figuren des Romans treten durch ihr Handeln, ihre Gestik und ihre Beziehungen untereinander in ihrem Wesen klar und plastisch hervor. Und auch diese (zwischenmenschlichen) Routinen spielen sich auf einem spürbar wackligen Boden ab, drohen unterschwellig zu kippen. Das Grauen kommt auf leisen Pfoten, wie es sich für das Leben auf dem Lande gehört, und wird in giftigen kleinen Dosen verabreicht.

Die Jury konnte sich der magischen Sog-, mehr noch: Strudelwirkung, die die Sprache der Autorin bereits in der eingereichten Leseprobe entfaltete, nicht entziehen und wünscht sich, dass dieser poetische, melancholische, gleichzeitig auch beunruhigende Psychothriller auf demselben Niveau vollendet wird. Wir als Mörderische Schwestern erachten das Projekt als unbedingt förderungswürdig und wollen dazu mit unserem Arbeitsstipendium gern beitragen.

Die Jury 2015 bestand aus: Anja Feldhorst, Ivonne Keller, Nicole Neubauer, Ricarda Oertel und Inge Steinmüller. Sekretariat: Almuth Heuner.