Vom Auffinden der Leiche bis zur Verurteilung des Mörders - Teil 2 - Der Tatort

von Susanne Rüster

 

Der Tatort

Die (fiktive) Inhaberin des Pralinchen-Cafés ist eine private Ermittlerin. Im Teil 1 stolperte sie über die männliche Leiche in ihrem Caféhaus. Obwohl sie eine kriminalistische Ader hat und nur zu gern selbst herausfinden würde, wer der Mörder war, hat sie sich an die Regeln gehalten und die Polizei zum Tatort gerufen. Was jetzt passiert, hat sie sich allerdings so nicht vorgestellt.

Die Ankunft am Tatort

Aus dem Wagen der Schutzpolizei stürmen zwei Polizisten in ihr Café und stoßen hervor: „Erstangriff!“

Das beunruhigt die Caféhaus-Inhaberin mehr als die bei ihr liegende Leiche.

„Wieso Angriff?“

Das wird ihr nicht erklärt, vielmehr ergeht der Befehl: „Sie stellen sich mal ganz in die Ecke.“

Einer der Polizisten befestigt jetzt rot-weiß-gestreiftes Absperrband rund um den Raum, klebt es über die Fenster und die Türen, während der andere mit gezogener Pistole nach draußen geht und sich umschaut.

Die Inhaberin dieses Ortes beobachtet, in der äußersten Ecke neben ihrem altmodischen Buffet stehend, das Treiben der beiden unfreundlichen Herren. Die knien jetzt vor einem blutigen Schuhabdruck.

„Ham Sie die Leiche verschoben oder was weggenommen oder verändert?“

„Nein. Hab bloß Fotos gemacht.“

„Wie das denn? Traun Sie uns nicht? Haben Sie einen Hund?“

„Nein, wieso?“

„Halten Sie sich bereit!“

„Wofür?“ Wollen die sie etwa einsperren?

„Wir wolln noch was von Ihnen wissen. Die Kollegen sind gleich da.“

Als Besitzerin eines Cafés, das Schauplatz eines Gewaltverbrechens ist, würde sie sowieso nicht entfleuchen, denn sie hofft, eher den Täter zu finden als die fluchenden Polizisten.

„Verdammt. Ich hasse Tatorte, wo Leute sind. Alles kontaminiert.“

„Die hat auch noch so ‚ne Wolljacke an.“

„Na und? Ich kann doch anziehen was ich will.“

Die Inhaberin des Pralinchen-Cafés sucht wütend in ihrem Handy nach Informationen, ob die Polizei sie aus ihren eigenen Räumen werfen darf. Fündig wird sie nicht, findet aber bei Wikipedia die Erklärung für den militärisch klingenden Erstangriff. Er wird auch als Erster Zugriff bezeichnet, beginnt mit dem Sicherungsangriff, geht über in den Auswertungsangriff und bezeichnet die Tatortarbeit.

Wie der Tatort gesichert und bearbeitet wird

Ein Mann und eine Frau in weißen Schutzanzügen betreten jetzt ihr Café. Die Spurensicherung hält es ebenfalls nicht für nötig, sich vorzustellen. Die Inhaberin erinnert sich an Sherlock Holmes-Krimis. Der Detektiv kannte immerhin schon vor mehr als einhundert Jahren die Bedeutung von Fingerabdrücken und Blutspuren. Neugierig verfolgt sie, wie die Spusis auf dem Boden herumrobben, Haare, Fasern, Krümel, Spritzer mit einer Lupe begutachten, aufsammeln, in Tüten packen und beschriften.

„Schleifspur!“ ruft einer vom Erstangriff. „Anhaftung von Erde.“

Jetzt hocken beide vor der hinteren Tür, die zum angrenzenden Laubengelände führt.

„Keine Werkzeugspuren.“ Der Polizist betrachtet mit einer Lupe Schloss und Beschlag. „War die Tür nachts offen?“

Ach du meine Güte, denkt die Caféhaus-Inhaberin, hab ich vergessen abzuschließen? Pia, die Nachbarin, hat Quitten fürs Gelee vorbeigebracht, gestern Abend.

„Kombiniere“, sagt sie in Sherlock-Holmes-Manier, „der Mörder hat die Leiche hier bei mir abgelegt.“

Das zaubert kein Lächeln auf die Polizistengesichter, die Mutmaßungen anstellen. „Inszenierter Tatort?“

„Wie, ich?“, ruft die Inhaberin des Cafés empört. Ist das die Quittung für ihr korrektes Verhalten, dass man sie für eine Mordverdächtige hält? Die nachts die Hintertür offen lässt, damit es aussieht, als ob ein anderer die Leiche bei ihr abgelegt hat?

In ihrem erschreckten Gedanken wird sie abgelehnt, als zwei Männer und zwei Frauen in Jeans und T-Shirt ins Café stürmen und sich in stummer Absprache verteilen.

„Kripo, Erstangriff, zeigen Sie mal Ihren Ausweis“, sagt die eine Frau, während die andere sich zu den beiden Polizisten an der Tür hockt und mit ihnen flüstert, als wären sie vertraute Bekannte.

„Ich hab den Mann nicht umgebracht“, sagt die Inhaberin des Cafés aufgebracht.

„Och, gibt Täter, die melden ein Verbrechen, weil sie dann weniger verdächtig aussehen.“ Die Polizistin schleudert ihren blonden Pferdeschwanz nach hinten und grinst. „Sind hier weitere Personen im Haus?“

„Ich hatte mein Café noch nicht aufgemacht.“

„Tatort nach hinten offen zum Laubengelände.“ Eine der beiden Erstangreifer spricht in ein Funkgerät. „Ausgänge sichern. Ausschau nach Personen auf dem Gelände.“

Kurze Zeit später ertönt das Martinshorn.

„Lassen Sie Pia in Ruhe“, sagt die Caféhaus-Besitzerin erschrocken. „Meine Nachbarin ist harmlos und hat eine Angststörung.“ Dann denkt sie noch an den fast 90-jährigen Olaf, der hier dauerwohnt, weil er sich seine Miete nicht mehr leisten kann.

„Wir kennen uns aus mit Zeugen und Tatverdächtigen“, sagt die Polizistin mit dem Pferdeschwanz selbstbewusst.

Wie das Verfahren dokumentiert wird

„Sicherungsprotokoll!“, ruft der Erstangreifer dazwischen. Die Cafehaus-Inhaberin  beobachtet, wie jeder einzelne Polizist ein Formular unterzeichnet, obwohl die sich doch offenbar alle untereinander kennen.  

Der Kollege vom Erstzugriff sagt, dass er jetzt eine erweiterte Ortsbesichtigung macht und geht durch die hintere Tür ins Laubengelände.
Die andere Polizistin, die kurze Haare mit einer silbernen Strähne hat, macht Videoaufnahmen und folgt nach einer ausgiebigen Rundtour über den Leichnam und den Gaststätten-Raum dem Polizisten durch den Hinterausgang nach draußen.
Ein Kripo-Mann spricht ins Diktiergerät über Vorfälle am Tatort und rundum. Verständlich für die Inhaberin ist lediglich, dass er eine Liste mit Beschreibung des Ortes und einzelner Beweisstücke diktiert, wo und von wem sie aufgefunden wurden und wer sie ins Labor transportiert. Dann gibt er noch die Uhrzeit ein, wann Fotos und Videoaufnahmen gemacht wurden, und fragt die Caféhaus-Inhaberin streng, ob sie irgendetwas verrückt oder entfernt hat.

„Nein“, ruft sie aufgebracht. Dann fällt ihr ein, dass sie ein zerknülltes Papiertaschentuch in den Müll geworfen hat. Sie hat aber keine Lust, sich noch Vorwürfe anzuhören.

Wie der Tatort rekonstruiert wird

Währenddessen sind zahlreiche Fotos vom Leichnam gemacht worden, von jedem Körperteil, jedem Stück Kleidung, Ganzkörper- und Nahaufnahmen, von der Blutlache und den nassen Flecken im schwarzen Anzug.

„Sieht nach Schuss- oder Stichwunden aus“, sagt der fotografierende Polizist. Er benutzt ein Lineal, das auch fotografiert wird. Das hat wahrscheinlich mit den Dimensionen der Spur zu tun, denkt sich die Inhaberin, stolz auf ihr kriminalistisches Wissen.

Im Anschluss malt der Fotograf noch Punkte und Striche auf ihren Mosaikfußboden, überall dort, wo er Spuren entfernt hat. Sie hofft, dass die dicken Markierungen nicht in den brüchigen Steinboden einsickern.
Die Kripofrau mit dem Pferdeschwanz fertigt jetzt eine Tatortskizze.

„Irgendwas verändert worden?“, fragt sie. „Wegen der Koordinaten-Positionen.“

„Nichts verändert. Wie oft soll ich das noch sagen?“ Die Inhaberin des Pralinchen-Cafés fühlt sich schwach. Sie hat noch nicht gefrühstückt und Koordinaten-Positionen interessieren sie im Augenblick nicht.
Jetzt malt die Polizistin eine schräg liegende Figur und bezeichnet sie mit A  und männliche Leiche, schräg darüber zeichnet sie einen umgekippten Stuhl, den sie D nennt und dann trägt sie noch Ziffern ein, die wie 5‘9,  7‘4, 10‘8 aussehen und mit Pfeilen zu den jeweiligen Skizzen-Rändern verbunden sind. Was das bedeutet, will die Caféhaus-Inhaberin nicht mehr erfragen. Ihre Knie werden weich, und sie will endlich in ihrer Küche einen Kaffee trinken. Das wird ihr zum Glück erlaubt.

Die private Ermittlerin ist einen Schritt voraus

Während ihre Lebensgeister beim Kaffee wiederkehren, fällt der Inhaberin des Pralinchen-Cafés etwas sehr Wichtiges ein: Sie hat den Toten schon einmal gesehen. Sie erinnert sich an den Mann im schwarzen Anzug. Vor allem an die auffällige, braune Warze neben dem Mund. Sie weiß nur nicht, wo sie den Mann gesehen hat. Aber das wird ihr auch noch einfallen.
Zufrieden lächelnd beschließt die private Ermittlerin, dieses Wissen erst mal für sich zu behalten.

© Susanne Rüster