Vermisst! Entführt! Gefangen! Teil II

von Susanne Rüster

Ich habe Sie im Visier!
Die Frau liegt auf einem Bett mit Eisengestell, ihre Hand festgekettet. Sie ist in einem Keller. Gefangen.

Ein Mensch wird überfallen, an einen unbekannten Ort verbracht, ein Ziel wird gewaltsam durchgesetzt: Lösegelderpressung (z.B. Oetker- oder Reemtsma-Entführung), politische Forderungen (z.B. Lorenz- und Schleyer-Entführung durch die RAF), oder es geschieht aus pathologischem Antrieb (häufig im Krimi). Der Ablauf einer Entführung vollzieht sich meist in folgenden Schritten:

1.  Auswahl des Opfers, Observierung, Überfall, Transport in ein Versteck

2. Verhandlungsphase 

3. Übergabe des Lösegeldes/Erfüllung der Forderung

4. Freilassung des Opfers.

 

Auswahl und Beobachtung der Zielperson

Täter*innen-Sicht

Eine erfolgreiche Entführung setzt hohe Professionalität, hervorragende Organisation, starke Nerven voraus und die Fähigkeit, auf unvorhergesehene Abläufe schnell zu reagieren. Schlichte Gemüter, planlose Hektiker, triebgesteuerte Pathologen haben bei einer professionell durchgeführten Entführung nichts zu suchen. Ist das Entführungsopfer ausgewählt, ist der sicherste Ort zu finden. Nötig sind Informationen über Tagesablauf und Umfeld des Opfers. Getarnte Kameras, installierte Mikrophone werden eingesetzt, zu Nachbarn, Arbeitskollegen, Bekannten des Opfers geknüpfte Kontakte werden genutzt; besonders „dankbare“ Informanten sind Kinder und Hauspersonal. Das Opfer bemerkt von alledem nichts.

Der Überfall

„Lassen Sie mich los!“ Auf dem Heimweg rennt ein Mann von hinten heran, packt sie, dreht ihr den Arm auf den Rücken. Ein weiterer kommt hinzu. „Verdammt, was soll das?“

Täter*innen-Sicht

Diese Phase ist für die Entführer*innen risikoreich. Sie sind angespannt, misstrauisch und haben Angst, erkannt zu werden. Professionelle Täter*innen sind auf starke Gegenwehr des Opfers vorbereitet. So schnell wie möglich wird es betäubt oder die Augen werden verbunden, ein Sack wird über den Körper gezogen. Gewalt wird nicht angewendet, um zu töten. Ein totes Opfer ist für die Durchsetzung von Forderungen wertlos.

Opfer-Sicht

Gewaltsam wird sie weggeführt, in ein Auto gestoßen. Die Hand des Typen neben ihr umklammert ihr Genick, drückt ihren Kopf nach unten. Es geht los, immer weiter weg.

Das Opfer, das nichts von seiner Beobachtung bemerkt hat, ist völlig überrascht, gelähmt vor Angst oder gerät bei Fesselung, rabiatem Verbringen ins Fluchtauto in Panik und übt heftige Gegenwehr, die stärkere Repressalien hervorruft.

„Hilfe!“ Keine Chance, sich nach außen verständlich zu machen. Sie tritt wild um sich. „Keine auffälligen Bewegungen!“ Ein stinkender Sack wird über sie gestülpt. Übelkeit, Finsternis.

Opferschutz-Experten raten, sich defensiv zu verhalten und keinesfalls die Maskierung vom Kopf der Täter*innen zu reißen. Deren Identifizierung bedeutet den Zusammenbruch der Planung und möglicherweise das Todesurteil für das Opfer.

Sie versucht, die Straßen zu erraten, die sie entlangfahren. Anhalten, Beschleunigen, Abbiegen. Sie weiß die Richtung nicht mehr.

Der Transport in ein Versteck

Täter*innen-Sicht:

Nach der Gefangennahme ist der Abtransport die zweitschwierigste Phase. Das Opfer wird zusammengekauert im Fond des Autos oder im Kofferraum transportiert. Auf der Flucht können andere Menschen den Vorgang stören, ein Stau kann schnelles Entfernen vom Ort des Überfalls verhindern, das Opfer kann sich durch Schreien bemerkbar machen.

Opfer-Sicht

Gedanken toben im Kopf. Geht es um Lösegelderpressung? Wer würde für sie zahlen? Sind ihre Entführer pathologische Frauen-Hasser? Wollen sie quälen? Umbringen? Niemand würde sie sobald vermissen.

Entführte Menschen versuchen manchmal, die Täter*innen in ein Gespräch zu verwickeln, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Dies wird jedenfalls in der ersten Phase nicht gelingen.

Tränen rinnen herunter. „Wollen Sie Geld?“ Keine Antwort. Sie fühlt verzweifelt, dass ihre Entführer nicht auf sie eingehen würden.

Das Opfer befindet sich in völliger Ungewissheit über sein weiteres Schicksal. Helfen kann möglicherweise das Wissen, dass die meisten Entführer*innen ihr Opfer nicht töten, sondern eine Forderung durchsetzen wollen. Deshalb raten Opferschutz-Experten dazu, dass die entführte Person - soweit ihr psychisch möglich - die Situation und ihre eigene Ohnmacht erkennt und ohne Gegenwehr annimmt.

Nur pathologische Täter*innen, die das Opfer kidnappen, um es umzubringen oder sich an ihm zu vergehen (real selten, aber beliebte Krimi-Plots), stellen nach Vollzug von Schritt 1 einer Entführung keine Forderung. Anstelle der Freilassungs-Verhandlungen tritt manchmal eine kryptische Mitteilung an die Polizei oder Verwandte oder Freunde des entführten Menschen. Gelingt es dem Opfer einer triebgesteuerten Entführung nicht zu entkommen und wird es nicht befreit, endet sein Leben ohne Chance auf Freilassung nach Erfüllung einer Forderung.

Der Typ gibt ihr einen Stoß, dass sie aussteigen solle. Weit draußen auf dem Land sind sie. Ihre Beine zittern, sie stolpert. Unter den Achseln ist es nass. Pure Angst.  „Kein Gehampel, kein Geschrei!“ Die Faust im Rücken.

Nach erfolgreichem Überfall und Verlassen des Tatortes atmen die Entführer*innen erstmal auf. Der schwierigste Teil ist für sie geschafft, die Erregung fällt ab. Anders beim Opfer.

Eine Tür wird aufgeschlossen, sie wird eine Treppe hinuntergeführt. Wenigstens ziehen sie ihr jetzt den Sack ab. Kaltes, helles Licht, sie blinzelt geblendet, nimmt einen Raum ohne Fenster wahr. Sie ist im Keller. Die Tür wird geschlossen.

In Teil III geht es darum, was im Versteck passiert und wie Verhandlungen angebahnt werden.