Die Staatsanwältin – Fiktion und Fakt – Teil 1
von Susanne Rüster
USA versus Deutschland
„Der Angeklagte kam also mit blutiger Kleidung aus dem Haus, nachdem er seine Frau ermordet hatte?“ Staatsanwältin beschwörend zum Zeugen.
„Einspruch, Euer Ehren!“ Verteidiger springt auf. „Ein Mord ist nicht bewiesen.“
„Stattgegeben.“ Richter lässt Hammer auf Tisch krachen.
„Sie haben nach dem … äh …tödlichen Vorfall … den Mann da …“, Staatsanwältin zeigt auf Angeklagten, der im verglasten Bereich sitzt, neben ihm zwei bullige, schwer bewaffnete Polizisten, „blutbefleckt aus dem Haus kommen …“
„Einspruch!“ Verteidiger. „Wiederholung. Beeinflussung des Zeugen.“
„Abgelehnt!“ Hammer knallt.
Staatsanwältin stützt Fäuste in die Hüften. Zeuge senkt eingeschüchtert den Kopf, sagt leise: „Ja.“
„Der Zeuge der Anklage sieht schlecht.“ Anwalt wedelt mit Optiker-Rechnung. „Wer weiß, ob er seine Brille aufhatte.“
„Einspruch! Pure Behauptung.“
„Stattgegeben.“
Anwalt zieht sich grollend zurück. Staatsanwältin stolziert auf und ab, Angriffslust im Auge. Sie will, dass die Jury den Angeklagten schuldig spricht.
Angeklagte in orangefarbener Häftlingsuniform, emotional plädierende Anwälte, weise Richter, weinende Angehörige und darüber die Sterne der amerikanischen Flagge. Diese Szenen sind aus amerikanischen Filmen und Romanen geläufig 1).
Alles anders in Deutschland?
Staatsanwältin (Sta’in 2)) Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann) aus dem Münsteraner Tatort mischt sich durchsetzungsstark mit rauchiger Stimme in die Ermittlungen ein. Die Sta’in aus Saarbrücken, Nicole Dubois (Sandra Steinbach), setzt im Drogenverfahren selbst einen V-Mann ein und gibt Befehl, Schüsse auf ein Rocker-Clubhaus abzugeben. Ihre Hamburger Kollegin Hanna Lennerts (Edita Malovcic) liebt Kommissar Nick Tschiller (Til Schweiger) und bringt sich bei der Jagd auf einen gefährlichen Clan selbst in tödliche Gefahr. Drei tolle Frauen, die den Realitäts-Check nicht bestehen.
Was macht sie denn nun, die deutsche Sta‘in? Hanna Kraefft, nenne ich sie, 35 Jahre alt, seit 7 Jahren im Amt. Sie hat wie Richter oder Richterin zwei juristische Staatsexamen, wird genauso bezahlt. Sie liebt ihren Beruf, denn es geht um Gerechtigkeit im Sinn der Strafgesetze, um Sühne des Verbrechens und Genugtuung für das Opfer. Nur hat sie kaum Zeit, an dieses hehre Ziel zu denken.
Sta’in Hanna Kraefft bei Mord & Totschlag
Hanna Kraefft hat einige Jahre im Dezernat für allgemeine Kriminalität Autodiebstahl, Wohnungseinbruch, Betrug, Urkundenfälschung, Kneipenschlägerei verfolgt und hatte Hunderte kleinere Verbrechen auf dem Tisch. Dann ist sie in die Spezialabteilung für Kapitaldelikte gewechselt. Bringt zwar nicht mehr Gehalt, aber mehr Prestige.
Hanna hat im Turnus Rufbereitschaft. Die Polizei benachrichtigt sie beim Fund einer Leiche mit unklarer Todesursache 3). Ob Hanna nachts aufsteht und an unwirtliche Orte fährt, um die Leichenschau 4) vorzunehmen, ist ihre Sache. Hanna ist zwar die Herrin des Ermittlungsverfahren5), aber in Kriminalistik nicht ausgebildet. Manchmal hält Hanna sich für eine Papiertigerin. Sie hat keine Dienstwaffe, kann keine Fingerabdrücke abnehmen, keine Spuren auswerten, es sei denn, sie hat bei der Polizei hospitiert, sie hat keinen Einblick in die Verbrecher- und Fahndungsdateien, kann keine Einsätze organisieren. Am Tatort macht die Polizei die Arbeit auch ohne sie (in der Reihenfolge: Lagedienst/Zentrale, Schutzpolizei, Arzt*Ärztin, Spurensicherung, Kommissar*in). Ein*e Rechtsmediziner*in taucht am Tatort/Auffindungsort nur im fiktionalen Krimi auf. Konfrontiert mit ‚ihrer‘ Leiche wird Hanna zunächst oft nur auf dem Papier, wenn sie deren Sicherstellung und die Leichenöffnung durch den Rechtsmediziner anordnet 6). Bei der Obduktion kann sie dabei sein, muss aber nicht. Meist hat sie zu viel Aktenarbeit (Beschuldigte in U-Haft, die anzuklagen sind). Und mehr als für die Leiche interessiert sich Sta‘in Kraefft dafür, den Täter oder die Täterin vor Gericht zu bringen.
Die objektivste Behörde der Welt
Diesen schönen Ruf darf Hanna als Mitglied der deutschen Staatsanwaltschaft für sich beanspruchen. Sie ermittelt objektiv und in beide Richtungen, also auch für den oder die Beschuldigte*n, und sucht belastende und entlastende Beweise. Sie kann ein Ermittlungsverfahren einstellen (‚niederschlagen‘), etwa weil die Beweise nicht ausreichen, und kann im Strafprozess auf Freispruch plädieren. Das kann ihre amerikanische Kollegin nicht. Als District Attorney – eine vom Volk gewählte Vertreterin des Staates – ermittelt sie bei Verstößen gegen die Strafgesetze ihres County, bei Schwerverbrechen unterstützt von angegliederten Ermittlungseinheiten (County Detectives). Und dabei ist sie einseitige Anklagepartei und Gegnerin des Täters, der Täter*in und deren Verteidigung.
Die meisten Tötungsdelikte sind Beziehungstaten
Die Aufklärung von Tötungsdelikten gehört – anders als Wirtschaftsdelikte oder Verbrechen der organisierten Kriminalität – zum Leichtesten, aber auch zum Prestigeträchtigsten in der Strafverfolgung. Etwa 90 % aller Tötungsdelikte werden innerhalb weniger Tage aufgeklärt, weil die Täter*innen meist im Umfeld der Opfer zu finden sind (Familienangehörige, Freund*innen, Geschäftspartner*innen). Pathologische Serienmörder*innen kommen äußerst selten vor (ca. 1 % der Tötungsdelikte), auch wenn sie in Psycho-Thrillern viel Raum einnehmen 7).
Sta’in Kraefft bemerkt schnell, dass die Verfolgung von Kapitaldelikten nicht so spektakulär abläuft wie im Krimi. Bei Verfolgung von Täter*innenn, bei Auffinden einer Leiche mit unklarer Todesursache ist die Polizei am Ball. Sie hat mehr Personal, ist geschult in Widerstands- und Kampfsituationen, hat eine umfangreiche technische Ausstattung, zugeordnete Helfer*innen (Profiler*innen, Psycholog*innen, Techniker*innen, IT-Mitarbeiter*innen) und verfügt über Täter*innen-Dateien und Spurensammlungen (DNA). Sta’in Kraefft bleibt am Schreibtisch und oft meldet sich die Kripo bei ihr nur, wenn Anträge beim Ermittlungsrichter, bei der Ermittlungsrichterin 8) zu stellen sind (z.B. Durchsuchung der Wohnung des verdächtigen Killers, der Killerin, Beschlagnahme von Waffen, Beantragung eines Haftbefehls). Bei Gefahr im Verzug9) (z.B. DNA schnell sichern, Täter*innenwohnung durchsuchen, Verdächtige*n vorläufig festnehmen) trifft die Kripo selbst die Anordnung und bittet die Sta’in erst hinterher, diese Anordnung durch die Ermittlungsrichter*in bestätigen zu lassen.
Der Mörder, die Mörderin wird gejagt
Sta’in Kraefft hat jetzt einen rätselhaften Mordfall (der zu den erwähnten 1 % der Tötungsdelikte gehört): Vergewaltigte und ermordete junge Frauen werden an einsamen Orten gefunden. In einem derartigen Ausnahmefall lässt sich Hanna Kraefft öfter von der Kripo über den Ermittlungsstand unterrichten. Sie sucht aber nicht ‚ihre‘ Ermittlungsbeamt*in in der Mordkommission auf, und jagt nicht dem Täter, der Täterin hinterher (weder mit der Polizei und schon gar nicht allein). Der Bericht der Kripo kommt schriftlich und über den Dienstweg (beider Polizei: Kommissariatsleiter*in, evtl. Direktionsleiter*in und Polizeipräsident*in, bei der Staatsanwaltschaft: Abteilungsleiter*in, evtl. Hauptabteilungsleiter*in und Behördenleiter*in). Die Vorgesetzten entscheiden, ob und welche Details über die Pressestelle an die Öffentlichkeit gegeben werden können, ohne den Ermittlungserfolg zu gefährden. Kann der Täter, die Täterin trotz aufwendiger Forensik nicht gefunden werden (Cold Case), wird der Fall abgelegt, aber nicht endgültig. Mord verjährt nicht 10).
Serienmörder*innen erschüttern die Öffentlichkeit besonders. Zur Illustration nehme ich den Fall des Ted Bundy, der in den 70igern in den USA fast dreißig junge Frauen getötet hat. Ein sympathisch aussehender, intelligenter Student mit einer besonderen Masche.
Bei schwer ermittelbaren Morden wird die Fallanalytiker*in (Profiler*in) der Polizei tätig. Wie geht er oder sie vor? Ausgangspunkt: Die Opfer von Ted Bundy hatten alle dunkles, in der Mitte gescheiteltes Haar 11). Die Kripo findet einen Zeugen, der eine junge Frau (mit dunklem Haar und Scheitel) beobachtet hat, die einem Mann mit Arm in der Schlinge beim Einladen seiner Einkäufe half, zu ihm ins Auto stieg und seitdem vermisst war, bis man ihre Leiche fand. Die Profiler*in schließt auf eine Masche des Täters: Hilfebedürftigkeit vortäuschen. Gleichzeitig setzen sich weitere Polizei-Helfer*innen (Psycholog*innen, Kriminolog*innen, Soziolog*innen) mit Tätermotiv und Begehungsweise auseinander. Sie gleichen das Muster (junger freundlicher Mann mit Arm in der Schlinge) anhand der Polizei-Statistik mit bekannten Fällen und mit spezifischen, durch zahlreiche Verbrechensanalysen ermittelten Merkmalen ab. Leider hinterlassen Profis nicht immer Spuren. Selbst wenn die Spurensuche ein Profil findet, nützt es erst, wenn die DNA des Killers oder der Killerin bereits gesichert ist. Können die Forensiker*innen das Umfeld der Morde z.B. auf den regionalen Raum und auf jüngere Männer bis dreißig einschränken, werden diese zur Abgabe von Material für DNA-Analyse und Daktyloskopie (Fingerabdrücke) aufgefordert. Im Fall Ted Bundy steckten diese forensischen Methoden noch in den Kinderschuhen. Überführt wurde er schließlich über eine Zahnanalyse anhand eines Bissabdrucks auf dem Po eines Opfers.
Der Mörder, die Mörderin wird gefasst
Die Kripo hat aus Tatortspuren (Blut, Fingerabdrücke, Schleimhautabrieb etc.) molekulargenetische Untersuchungen vorgenommen, das DNA-Identifizierungsmuster, die Abstammung und das Geschlecht des Täters, der Täterin bestimmt, ferner Schuhabdrücke, Hautpartikel, Waffe, Leichenspuren ausgewertet und die Tötungsmodalitäten abgeglichen mit früheren Mordfällen. Erfolg: Die Kripo ist einem Menschen auf die Spur gekommen, der vermutlich ein pathologischer Serienkiller ist. Jetzt muss dieser Mensch ‚nur noch‘ gefasst werden. Man sieht ihm seine Schlechtheit nicht an. Männliche Serienkiller sind oft intelligente, gutaussehende Typen (s. Ted Bundy) und vielfach nicht geisteskrank. Sie haben eine bestimmte Masche, ihre Opfer an einen einsamen Ort zu locken, zu vergewaltigen, zu quälen, umzubringen. Sie wissen, was sie tun, und dass es höchst verwerflich ist.
Der verdächtige Killer, die Killerin ist von einer Hand in Hand arbeitenden Soko (von der Einsatzzentrale bis zu den Verfolger*innen vor Ort, u.U. unter Heranziehung des SEK) gestellt worden. Die Überwältigung eines gefährlichen Täters oder Täterin findet immer im Team statt, niemals im Alleingang. Ein Profi begibt sich nicht in Gefahr, Eigensicherung geht vor Festnahme. Die Wirklichkeit unterscheidet sich stark vom üblichen Täter*innen-Verfolger*innen-Showdown im fiktionalen Krimi.
Ist der*die Verdächtige vorläufig festgenommen (nicht verhaftet), stellt die Polizei seine*ihre Identität fest, hierfür können Fotos gemacht und Fingerabdrücke genommen werden 12). Jetzt ist Sta’in Kraefft gefragt: Sie beantragt bei der Ermittlungs(Haft)richter*in einen Haftbefehl, und zwar schnell. Denn jede*r Verdächtige ist unverzüglich, spätestens am Tage nach der Festnahme, der Richter*in vorzuführen, die über die Verhängung von Untersuchungshaft entscheidet (‚verhaftet‘)13).
Der Blick in die kriminelle Seele
Die W-Fragen – Wer, Was, Wie – sind beantwortet. Jetzt geht es um das Warum. Der*die Tatverdächtige ist auf eine Geisteskrankheit zu untersuchen, seine*ihre Schuldfähigkeit (nicht: Zurechnungsfähigkeit) zu beurteilen. Denn die Schuld entscheidet, ob die Täter*in zu Freiheitsstrafe (nicht Gefängnis) verurteilt oder bei Schuldunfähigkeit in einer psychiatrischen Klinik untergebracht wird. Der*die Mordverdächtige (noch ist die Person nach der Unschuldsvermutung ‚nur‘ verdächtig, wenn auch ‚dringend‘) wird zur Beobachtung und zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Sta’in Kraefft beantragt die Unterbringung bei Gericht 14), das die Anordnung nach nochmaliger Prüfung trifft (oder auch ablehnt, wenn es nicht vom dringenden Tatverdacht überzeugt ist). Der*die Mordverdächtige wird dort körperlich und geistig untersucht. Hierfür sind neurologische und psychische Testungen vorzunehmen, medizinische Probleme (Schlaganfälle, Kopfverletzungen, Medikamente) aufzuspüren, Blut- und spezielle Untersuchungen (EEG), Kernspin- oder Computertomographie des Gehirns durchzuführen 15). Diese Zwangsmaßnahmen sind Eingriffe in die persönliche Freiheit (Art. 2 Grundgesetz). Da sich kein*e Beschuldigte*r selbst belasten muss (‚nemo-tenetur-Grundsatz‘) ist die Mitwirkung freiwillig – Der*die Beschuldigte muss dulden, nicht handeln. Die Person muss sich Blut entnehmen lassen, ggfs. eine Magensonde oder eine Gehirnuntersuchung erdulden.
Nach Durchführung dieser körperlichen Untersuchungen ist die forensische Psychiater*in dran. Er bzw. sie führt verschiedene Tests (Persönlichkeits-Fragebögen, Intelligenztests etc.) durch. Nach deren Auswertung beginnt die Befragung. Die forensische Psychiater*in nimmt – anders als die klinisch arbeitenden Kolleg*innen, die einer erkrankten Patient*in helfen möchten – die Persönlichkeit des*der Verdächtigen auseinander, um die Tatmotive offenzulegen. Kriminelle lügen, um sich der Strafe zu entziehen. Das ist nachvollziehbar, aber nur das Schweigen ist durch das Selbstbelastungsverbot gedeckt, nicht das Lügen. Die Aufgabe der Analytiker*in besteht vor allem darin, Unwahrheiten und Täuschungen zu erkennen. Ein*e intelligente*r Verdächtige*r übertreibt, stapelt tief oder erfindet sogar die eigene Vita, sexuelle Orientierung, Gefühle neu, spielt bestimmte Symptome einer Geistesstörung nach oder übertreibt tatsächlich vorhandene körperliche oder geistige Defekte, in der Absicht, sich der Strafe zu entziehen oder zumindest für schuldunfähig erklärt zu werden. Ein*e erfahrene forensische Psychiater*in erkennt Täuschungsmanöver, sucht nach Anzeichen für Nervosität wie schwitzen, Händezittern, fehlender Augenkontakt etc., beobachtet die Körpersprache wie Sitzhaltung oder Bewegung. Er oder sie hat Erfahrung mit dem Einfluss von Alkohol oder Drogen, Erschöpfung nach langer Jagd oder als Reaktion auf polizeiliche Taktiken, die zu eingeschränktem Urteilsvermögen, falschen Erinnerungen und Lügen, aber auch zu falschen Geständnissen führen können.
Der Killer, die Killerin ist überführt
Stai’in Hanna Kraefft entscheidet jetzt anhand der Rot-Akte mit dem Schlussbericht der Kripo nebst psychiatrischem Gutachten, ob die geballte Mühe von Kripo, Spurensicherung, Kriminaltechnik, Forensik sie überzeugen, den gesuchten Killer, die Killerin gefasst zu haben. Dann wird sie die Person anklagen und vor die Strafkammer (Schwurgerichtskammer beim Landgericht) bringen. Ihre Prüfung kann aber auch dazu führen, dass sie noch nicht überzeugt ist, dass der ihr von der Kripo präsentierte Mensch wirklich die gesuchte Täter*in ist, oder dass sie Fragen zur Einschätzung der forensischen Psychiater*in hat oder diese bei Unsicherheit durch ein weiteres Gutachten bestätigen lassen möchte oder dass sie weitere Zeug*innen aus dem Umfeld der Täter*in oder der Opfer hören möchte.
In dieser objektiven Prüfung liegt der entscheidende Unterschied zur Arbeit ihrer amerikanischen Kollegin, die einseitig Beweise und Indizien sucht, die für die Anklage sprechen, und immer überlegt, mit welchen Argumenten sie die Jury überzeugen und die Gegenseite (Angeklagte*r, Verteidiger*in) überlisten und zu Fall bringen kann. Die deutsche Staatsanwältin ist bei ihrer objektiven Prüfung ausschließlich ans Gesetz gebunden. Soweit sie als Beamtin ihrer Behördenleitung und dem Justizministerium untersteht (die z.B. Interesse daran haben könnten, der Öffentlichkeit die Täter*in zu präsentieren), braucht sie Anordnungen, die sie für gesetzwidrig hält, nicht zu befolgen. Zweifelt sie an Täter*innenschaft oder Schuld, kann man sie nicht zwingen, Anklage zu erheben. Vielleicht entzieht man ihr dann das Verfahren und beauftragt jemand anderen. Das kommt aber sehr selten vor.
Noch seltener, eigentlich unwahrscheinlich ist ein anderes, im fiktionalen Krimi beliebtes Szenario: Staatsanwältin Kraefft erkennt geschockt, dass es sich um ihren früheren Liebhaber handelt, oder um den Verbrecher, dem sie einmal selbst fast zum Opfer gefallen wäre oder sogar gefallen ist (Situation in ‚Cupido‘ von Jilliane Hoffmann16)). Dann geht Hanna Kraefft, nachdem der Schock sich gelegt hat, zu ihrer, ihrem Vorgesetzten, damit er oder sie ihr den Fall wegnimmt und jemand anderen beauftragt. Sie führt keinen privaten Rachefeldzug als Anklägerin durch, dann wäre sie evtl. strafbar wegen Verfolgung Unschuldiger 17), wäre jedenfalls aber kein anzuerkennendes Mitglied der objektivsten Behörde der Welt mehr.
Zurück zum üblichen Szenario: Geschafft! Die Anklageschrift ist bei der Schwurgerichtskammer 18). Das Gericht übersendet jetzt dem*der Angeschuldigten und dem Verteidiger die Anklageschrift zur Stellungnahme. Bei Mord liegt immer ein Fall notwendiger Verteidigung vor, so dass dem*der Angeschuldigten, wenn er oder sie keine Verteidiger*in hat, ein*e Pflichtverteidiger*in bestellt werden muss 19). Haben der*die Angeschuldigte und die Verteidiger*in Stellung genommen (freiwillig), prüft die Schwurgerichtskammer unabhängig und nochmals, ob hinreichender Tatverdacht besteht, dass tatsächlich der bzw. die gesuchte Serienkiller*in angeklagt ist. Teilt die Kammer die Ansicht von Sta’in Kraefft, wird ihre Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet 20). In dieser Vorgehensweise liegt ein gravierender Unterschied zum amerikanischen Strafprozess. Die amerikanische Richter*in gibt den Parteien von Anklage und Verteidigung eine Menge Spielraum, welche Beweise sie der Jury präsentieren und welche Informationen die Sachverständigen mitteilen dürfen.
Und Sta’in Hanna Kraefft wartet jetzt auf den Termin der Hauptverhandlung, dann wird sie ihre Anklage vor der Schwurgerichtskammer vertreten.
Was macht eine Sta’in, wenn der Täter vor Gericht steht – darum wird es in Teil 2 gehen.
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- ‚Wer die Nachtigall stört‘ (To Kill a Mockingbird), Justizroman der US-Amerikanerin Harper Lee aus dem Jahr 1960 vor dem Hintergrund von Rassismus. Ein Anwalt muss einen schwarzen Arbeiter verteidigen, der beschuldigt wird, eine weiße Frau vergewaltigt zu haben.
- Sta’in ist der allgemeine Behördenkürzel für die Staatsanwältin.
- § 159 Strafprozessordnung (StPO) – die einschlägigen Vorschriften finden sich hier: https://www.gesetze-im-internet.de/stpo/.
Mehr über die Arbeit der Polizei allgemein und bei Tötungsdelikten, Rodorf, StPO, www.rodorf.de/02_stpo/03_4.htm - § 87 Abs. 1 StPO
- §§ 159, 160, 161, 163 StPO
- Sicherstellung, § 94 StPO, Leichenöffnung durch Rechtsmediziner § 87 StPO
- S. z.B. ‚Der Kult um Killer‘ – Wir finden den Tod faszinierend, v. Niclas Renzel, https://www.bild.de/news/ausland/serienkiller/der-kult-um-killer-40676580.bild.html
- Z. B. Sicherstellung von Tatwerkzeug, § 94 StPO, Leichenöffnung, § 87 StPO, Identifizierung, § 88 StPO.
Der Ermittlungsrichter (§ 162 StPO), ein Strafrichter des jeweiligen Gerichts, wird nur im Vorverfahren tätig. Nicht er (oder sie) verurteilt eine*n Täter*in, sondern das Strafgericht, bei dem Anklage erhoben wird. Der bzw. Ermittlungsrichter*in trifft Entscheidungen bei schwerem Eingriff in die Grundrechte, z.B. Durchsuchung von Wohnräumen, Telekommunikationsüberwachung, Erlass eines Haftbefehls (Haftrichter). - § 105 StPO Durchsuchung, § 127 vorläufige Festnahme, § 81e stopp DANN untersuchen.
- § 78 Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB); Interessant: Stephan Harbord, Blut schweigt niemals, Deutschlands bekanntester Profiler über die spektakuläre Aufklärung von Cold Cases, 2020.
- Empfehlenswert für Forensik-Interessierte: D.P.Lyle, ‚CSI-Forensik für Dummies‘, 2009, John D. Wright, ‚Dem Täter auf der Spur‘, Parragon Books.
- § 81b StPO
- § 128 StPO
- § 81 II, III StPO, diesmal nicht bei der Ermittlungsrichter*in, sondern bei dem für das Hauptverfahren zuständigen Gericht (Schwurgerichtskammer).
- § 81a, e, f, g, h StPO
- Jilliane Hoffmann, Cupido, Weltbild Verlag, Augsburg 2004, als Taschenbuch bei Rowohlt 2011.
- Verfolgung Unschuldiger § 344 Strafgesetzbuch; in ‚Cupido‘ wird ein Unschuldiger verfolgt.
- § 199 ff. StPO
- § 142 Abs. 2 StPO
- §§ 202 ff. StPO.
Die Staatsanwältin - Fiktion und Fakt - Teil 2
von Susanne Rüster
Der Täter, die Täterin vor Gericht
Staatsanwältin (Sta’in) Hanna Kraefft zieht heute eine weiße Bluse an. Die Hauptverhandlung in ‚ihrem‘ Fall steht bevor. Für sie ist, ebenso wie für das Gericht, die Amtstracht eine Pflicht: Schwarze Robe mit Samtbesatz, weiße Bluse oder weißes Tuch. Sie nimmt ihre Handakte, das Strafgesetzbuch (StGB) und die Strafprozessordnung (StPO – im Film mit beschriftetem Rücken zum Publikum, in Wirklichkeit umgekehrt), und setzt sich an ihr Pult. Angehörige der Opfer betreten den Saal. Eine Frau weint, ein Mann stößt Flüche aus, Anwälte beschwichtigen. Als Nebenkläger*innen können die Angehörigen sich der Anklage anschließen, und so Einfluss auf die Urteilsfindung ausüben und psychische Entlastung finden. Kraefft wirft einen Blick auf die Anwaltsbank ihr gegenüber. Der Strafverteidiger legt seine schwarze Robe mit Seidenbesatz an, darunter weißes Hemd mitweißem Schlips.
Draußen ruft der Gerichtswachtmeister: „Prozessbeteiligte und Zuschauer bitte in den Saal.“
Die Hauptverhandlung ist in der Regel öffentlich und das Interesse bei einer Anklage gegen einen Serienmörder*in ist groß (illustriert am Fall Ted Bundy aus Teil 1, der in den Siebzigern in den USA mindestens 30 junge Frauen tötete1)).
„Warum gibt‘s keinen größeren Saal?“, hört Kraefft Stimmen im Flur.
„Schluss hier, mehr Sitzplätze gibt‘s nicht.“
Murren und Schritte, die sich entfernen. Für diesen Prozess ist bereits der größte Saal geöffnet worden. Ein Anspruch auf Einlass besteht nicht. Strafverhandlungen werden auch nicht im Wege einer Videoübertragung übermittelt. Fotografieren und Herstellen von Ton- und Bildaufnahmen sind während der Verhandlung verboten, davor und danach aber erlaubt. Vorn nehmen jetzt die Gerichtsberichterstatter*innen Platz, meist Freiberufler*innen, die für verschiedene Medien arbeiten, und eine oder einer der wenigen Gerichtszeichner*innen.
Die Strafverhandlung beginnt
Der Angeklagte wird von zwei Wachtmeistern aus der Untersuchungshaft vorgeführt, in Handschellen, bei Fluchtgefahr auch mit Fußfesseln. Die beiden Wachtmeister bleiben dicht beim Angeklagten. Er sitzt neben seinem Verteidiger.
Dann betritt das Gericht den Saal durch eine besondere Tür, die zum Beratungszimmer führt. Die Schwurgerichtskammer besteht aus drei (Berufs)richter*innen und zwei Laienrichter*innen (Schöff*innen), Letztere sollen das Vertrauen in die Justiz stärken und mithelfen, zu einer lebensnahen Rechtsprechung zu gelangen. Die Schöff*innen haben bei der Urteilsfindung eine den Berufsrichter*innen gleichwertige Stimme.
Kurzer Blick in die USA: Die amerikanische Jury besteht ebenfalls aus juristischen Lai*innen, wird aber von Staatsanwaltschaft und Verteidigung gemeinsam und nach jeweils taktischen Gesichtspunkten ausgewählt. Die Geschworenen entscheiden – einstimmig – über die Schuld oder Unschuld des oder der Angeklagten.
Das Gericht erscheint und alle im Saal stehen auf. „Bitte nehmen sie Platz“, sagt der Vorsitzende. Nun beginnt die Strafverhandlung, deren Ablauf in der StPO genau vorgeschrieben ist (Gerichtsjargon: ‚Spielregeln‘)2).
Sta’in Kraefft fühlt ihr Herz schlagen. Die Hauptverhandlung ist das Kernstück jeden Strafverfahrens, in dem der gesamte Fall neu aufgerollt wird. Jetzt wird sich zeigen, ob ihre Anklage das Gericht überzeugen kann, dass hier ein Massenmörder steht.
„Sie sind Herr … (Name)?“, fragt der Vorsitzende, um festzustellen, ob er den richtigen Angeklagten vor sich hat. Zu den persönlichen Verhältnissen (Name, Alter, Adresse, Geburtsort, Beruf, Familienstand) gibt es kein Aussageverweigerungsrecht.
Die Anklage wird verlesen
Hanna räuspert sich leise, gleich werden
alle Augen auf ihr ruhen. Sie steht auf und erhebt den Anklagevorwurf:
„Der (Name) wird angeklagt, aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, heimtückisch und grausam (Anzahl) Menschen getötet zu haben.
Dem Angeklagten wird folgendes zur Last gelegt: Er bat seine Opfer, die er nach einem bestimmten optischen Merkmal – dunkles, in der Mitte gescheiteltes Haar – ausgewählt hatte, um Hilfe beim Einladen seiner Einkäufe, wofür er eine Armverletzung vortäuschte. Sobald das Opfer sich über den Kofferraum beugte, stieß er es hinein, verschloss den Deckel, fuhr mit ihm an einen vorher ausgekundschafteten Platz. Dort tötete er – seinem vorher gefassten Plan folgend – das Opfer mit Einsatz eines Schlagwerkzeugs oder durch Erwürgen und verging sich dann an dem Leichnam. Verbrechen, strafbar gemäß §§ 211, 53 StGB 3).“
Sta’in Kraefft setzt sich. Ihre Funktion als Vertreterin der Anklage hat sie erstmal wahrgenommen.
Auftritt der US-Staatsanwältin
In den USA entscheidet die Grand Jury über die Anklage. Die Staatsanwältin ist nicht zur Objektivität verpflichtet, kann belastende Zeugenaussagen oder Untersuchungen vorlegen, entlastendes Material zurückhalten, und so die Entscheidung der Grand Jury beeinflussen. Ein amerikanisches Bonmot sagt, dass ‚ein guter Staatsanwalt auch ein Schinkenbrötchen zur Anklage bringen kann‘. Die Karriere der amerikanischen Staatsanwältin hängt oft davon ab, wie viele Verurteilungen sie erzielt. Ihr Auftritt könnte so beginnen:
Hohes Gericht, verehrte Geschworene, stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tochter, 21 Jahre alt, gesund, intelligent, hübsch, nett, fleißig. Ihr dunkles Haar trägt sie adrett in der Mitte gescheitelt. Sie studiert erfolgreich an einer renommierten Universität. Sie hat nur einen Nachteil: Sie ist hilfsbereit. Das wird ihr zum tödlichen Verhängnis. Sie kommt der Bitte um Hilfe beim Einladen der Einkäufe durch einen freundlichen jungen Mann mit Arm in der Schlinge nach.‘ Staatsanwältin spaziert vor der Jury auf und ab und blickt jedem der Geschworenen in die Augen, dann mit erhobener Stimme: ‚Dieser Hilfsdienst ist der letzte freie Moment, den Ihre Tochter erlebt. Dann stößt der Mann mit dem angeblich verletzten Arm sie von hinten in den Kofferraum, wirft den Deckel zu und fährt mit ihr an einen vorher ausgekundschafteten entlegenen Ort.
Einige Mitglieder der Jury haben schon Tränen in den Augen4).
Wird der Angeklagte (Beispiel Ted Bundy) des Mordes überführt?
Zurück in Deutschland. Der Vorsitzende fragt den Angeklagten, ob er sich zur Anklage äußern will 5). Spricht der Angeklagte, darf seine Aussage auch gegen ihn gewürdigt werden. Sein Schweigen darf aber nicht als Schuldeingeständnis gewertet werden, sondern ist neutral.
Es folgt die Beweisaufnahme 6). Der gesamte Fall wird mündlich verhandelt. Der Vorsitzende Richter vernimmt zunächst die Polizeibeamt*innen, die an der Überführung des Täters mitgewirkt haben. Als Zeug*innen in Betracht kommen auch überlebende Opfer und Personen, die sachdienliche Hinweise machen können. Hat der Vorsitzende keine Fragen mehr, sind die beisitzenden Richter*innen (Berufsrichter*innen und Schöff*innen) an der Reihe. Sta‘in Kraefft überlegt, ob sie selbst noch etwas von den Zeug*innen wissen möchte. Da sie enger als das Gericht mit der Polizei gearbeitet hat, kann sie wichtige Details hervorheben.
„Weshalb können Sie sich so genau an einen alltäglichen Vorfall wie Einkaufen erinnern?“, fragt Kraefft einen Augenzeugen, der beobachtet hat wie eins der Opfer einem Mann mit Arm in der Schlinge beim Einladen der Einkäufe ins Auto half (Masche des Ted Bundy).
„Ich hatte mir auch mal den Arm gebrochen. Ich fand es nett, dass die Frau dem verletzten Mann geholfen hat.“
Zeuge schildert glaubhaft die besondere Masche des Angeklagten, notiert sich Kraefft. Und dann stellt sie eine wichtige Frage: „Erkennen Sie den Angeklagten hier wieder als den Mann mit Arm in der Schlinge?“
Alle Augen im Saal sind jetzt auf den Zeugen gerichtet, der sich den Schweiß vom Gesicht wischt. Er blickt zum Angeklagten, obwohl er ihn bereits mehrfach gemustert hat, räuspert sich und sagt dann: „Ja, es ist derselbe Mann.“
Kraefft notiert zufrieden diese Aussage, und auch die Richter*innen tun das.
Der Angeklagte schüttelt den Kopf.
Sein Anwalt springt auf: „Der Zeuge ist über siebzig, trägt eine Brille, und die Entfernung betrug etliche Meter. Vielleicht war‘s auch schon dunkel. Oder der Zeuge will nicht eingestehen, dass er unsicher ist.“
„Herr Verteidiger, keine Mutmaßungen“, sagt der Vorsitzende. „Warten Sie bitte, bis Sie dran sind.“
Die Nebenkläger*innen mit ihren Anwält*innen sind nun an der Reihe mit ihren Fragen, anschließend die Sachverständigen (Forensiker*in, Psycholog*in, Psychiater*in) und zum Schluss der Angeklagte und sein Verteidiger7).
Kreuzverhör in den USA
Dort geht es äußerst konfrontativ zu: In einem emotionalen Kreuzverhör, das dazu dient, die Glaubwürdigkeit der gegnerischen Zeug*innen zu erschüttern, zielen Staatsanwaltschaft und Verteidigung allein auf die Gefühle der Geschworenen ab, nicht auf die des Richters, der Richterin. Das Kreuzverhör gewinnt, wer die Jury mit einem mitreißenden Plädoyer auf die eigene Seite bringt. Amerikanische Jura-Student*innen werden in ihren rhetorischen Fähigkeiten für diese Aufgabe geschult.
Auch die deutsche StPO regelt ein Kreuzverhör 8), bei dem das Gericht der Staatsanwaltschaft und Verteidigung die Vernehmung der Zeug*innen und Sachverständigen überlässt. Es hat aber aufgrund der umfassenden Fragerechte aller Beteiligter fast keine praktische Bedeutung.
Dem Mörder auf der DNA-Spur
Dank ausgefeilter DNA-Technik wird sich die Beweisaufnahme nicht lange ausdehnen. Wird ein Mordopfer gefunden, können Anhaftungen wie Speichel, Schweiß an der Kleidung oder Blut- und Hautpartikel unter den Nägeln, weil das Opfer sich gewehrt hat, den Täter, die Täterin auch nach Jahren, manchmal sogar nach Jahrzehnten noch überführen. Das gesicherte Profil wird in einer Gendatenbank erfasst, die mittlerweile Daten im sechsstelligen Bereich enthält. Moderne Computer können aus dieser Masse an Informationen schnell Ergebnisse herausfiltern. Die aus diesen Spuren gewonnene menschliche Erbsubstanz lässt sich eindeutig einem Menschen zuordnen9). Ted Bundy müsste vor den Fortschritten der Kriminaltechnik zittern. Er könnte sich heutzutage nur der Strafe entziehen, wenn man ihn nicht zu fassen bekäme. Ist er aber festgenommen, braucht er sich zwar nicht selbst zu belasten, muss also die Taten nicht gestehen, er muss jedoch die Abnahme seiner DNA dulden. Findet man diese an den Opfern oder in deren Nähe, ist der Schluss auf die Tatbegehung klar10). Der oder die psychiatrische Sachverständige würde das Gutachten vorrangig zu der Frage erstatten, ob der oder die Angeklagte bei Begehung der Tat schuldfähig, vermindert schuldfähig oder schuldunfähig gewesen ist. War er oder sie schuldfähig, wird er – im Fall des Mordes – zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt11) (Haftanstalt), war er oder sie schuldunfähig, ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an12).
Der aufregende Augenblick
„Frau Staatsanwältin, Ihr Plädoyer bitte“, sagt der Vorsitzende.
Hanna Kraefft ist als Erste dran. Und sie ist allein. Sie steht auf, wirft einen Blick rundum und beginnt, ihren Eindruck von der Hauptverhandlung möglichst frei vorzutragen:
„Hohes Gericht, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat sich der Angeklagte des Mordes in (Anzahl) Fällen schuldig gemacht.“
Nach diesem Einleitungssatz führt sie aus, wie der Sachverhalt sich ihrer Überzeugung nach ereignet hat.
„Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen (Name) steht fest, dass der Angeklagte am (Datum) die Studentin (Name) gebeten hat, ihm beim Einladen seiner Einkäufe in den Kofferraum seines PKW zu helfen. Hierbei hielt der Angeklagte den Arm in der Schlinge und täuschte einen Bruch vor. Die Zeugin kam seiner Bitte um Hilfe nach …“, usw. usf.
Jetzt führt Kraefft aus, weshalb sie dem Zeugen glaubt:
„Er hatte selbst einen Armbruch erlitten und wusste daher um die Hilflosigkeit beim Einkaufen. Daher schenkte er diesem alltäglichen Geschehen mehr Aufmerksamkeit und freute sich über die Hilfsbereitschaft der jungen Frau.“
Kraefft holt Luft, denn jetzt kommt der für sie entscheidende Teil:
„Der Zeuge hat den Angeklagten hier eindeutig als den Mann mit Arm in der Schlinge wiedererkannt. Da sich der Zeuge dann seinem eigenen PKW zuwandte, konnte er nicht mehr sehen, wie der Angeklagte die Frau von hinten packte und in den Kofferraum stieß.“ Kraefft führt jetzt aus, weshalb sie dem oder der psychiatrischen Sachverständigen folgt und den Angeklagten für schuldfähig hält.
Dann stellt sie ihren Strafantrag: „Ich beantrage, den Angeklagten wegen Mordes in (Anzahl) Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen.“
Geschafft. Hanna setzt sich und fühlt ihr Herz schlagen.
USA und Hollywood & Co.
Ein Blick auf die amerikanische Staatsanwältin. Ihr Schlussplädoyer ähnelt oft einer theatralischen Darbietung. Sie will die zwölf Geschworenen, die über Schuld oder Unschuld des oder der Angeklagten entscheiden, auf ihre Seite ziehen. Die Kompetenzen des US-Richters, der US-Richterin sind wesentlich geringer als die des deutschen Strafrichters, der Strafrichterin, die die Beweise unabhängig von der Meinung von Staatsanwaltschaft und Verteidigung würdigen. Der US-Richter, die US-Richterin entscheidet dagegen lediglich über die Höhe der Strafe, die Zulassung von Anträgen (‚abgelehnt‘ oder ‚stattgegeben‘) und erläutert den Geschworenen ihre Pflichten. Er ist daran gebunden, wenn die Jury ‚schuldig‘ entscheidet, selbst wenn er den Angeklagten, die Angeklagte für unschuldig hält.
Die US-amerikanische Staatsanwältin in Aktion: Was ich Ihnen jetzt sagen muss, ist unglaublich grauenhaft: Der Angeklagte schlägt mit einem Werkzeug auf die junge Frau ein, bis sie bewusstlos ist, und erwürgt sie dann mit seinen Händen. Ist sie qualvoll gestorben, vergeht er sich an ihrem Leichnam. Manche Leichen hat er sogar mit eigens dafür mitgebrachten Sachen geschminkt und umgekleidet. Dann verscharrt er die Leiche. Einige Mitglieder der Jury starren schockiert und voller Ekel auf den Angeklagten in seiner orangen Häftlingsuniform, der in einem abgetrennten Kasten sitzt, neben ihm zwei schwer bewaffnete Polizist*innen. Andere Geschworene schütteln den gesenkten Kopf. Die Staatsanwältin schätzt nach ihrer Erfahrung ein, ob sie an Härte und Eindringlichkeit zulegen muss. Wahrscheinlich werden Sie alle nie wieder einem freundlichen Unbekannten helfen. Trotzdem kann ich Ihnen die Einzelheiten dieser unvorstellbar brutalen Morde nicht vorenthalten.
Jetzt kommen die für die Geschworenen kaum erträglichen Details...
Deutschland
Theatralische Einlagen im Strafprozess, Gefühlsausbrüche, heftige Dialoge zwischen Beteiligten, Zwischenrufe aus dem Publikum duldet kein Richter, keine Richterin. Er oder sie kann eine*n Störer*in aus dem Saal entfernen lassen und Ordnungsgeld und -haft anordnen. Allenfalls lässt sich ein*e Schöff*in von unsachlichen Äußerungen beeinflussen, die in der Beratung mit den übrigen Mitgliedern der Schwurgerichtskammer die eigene Meinung überprüfen kann. Da bereits Kripo und Staatsanwaltschaft den Sachverhalt ermittelt haben, und das Gericht im Zwischenverfahren nochmals die Beweislage prüft13), kommt es kaum vor, dass ein wichtiger Beweis übersehen wird. Äußerst selten kommt es während der Hauptverhandlung zu einer – in Justizfilmen und -shows beliebten – dramatischen Wende (‚plot-twist‘), etwa weil die falsche Person vor Gericht steht und plötzlich ein Zeuge, eine Zeugin auftaucht, der den wahren Täter oder die Täterin kennt. Beliebt nach amerikanischem Vorbild sind auch Detektive der Verteidigung, die neue Beweise vorlegen, die Kripo und Staatsanwaltschaft angeblich übersehen haben14).
Nach den Plädoyers von Sta’in Kraefft, den Nebenkläger*innen und der Strafverteidigung hat der Angeklagte das letzte Wort15). Auch hier gilt: Er kann sprechen, er kann schweigen.
Jetzt zieht sich das Gericht zur Beratung in seinen besonderen Raum zurück. Es muss die Entscheidung treffen, ob der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Morde begangen hat. Das deutsche Strafrecht kennt keine Jury, die über die Schuldfrage entscheidet. Für die Feststellung der Schuld ist eine Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen erforderlich16). Bei der 5-er-Besetzung der Schwurgerichtskammer sind das also mindestens 4 Stimmen. Die Abstimmung erfolgt nach der Reihenfolge: Schöff*innen (Jüngere zuerst), dann beisitzende Richter*innen (‚Dienstjüngere‘ zuerst, ist ein*e Berichterstatter*in bestellt, dann diese*r zuerst), zuletzt stimmt der, die Vorsitzende 17).
Hat das Gericht sein Urteil beschlossen, tritt es wieder in den Saal. Alle erheben sich. Dann wird das Urteil Im Namen des Volkes verkündet. Der Vorsitzende verliest die Urteilsformel:
„Der Angeklagte (Name) wird wegen Mordes an (Anzahl) Menschen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.“
Anschließend (alle sitzen wieder) begründet der Vorsitzende die wesentlichen Gründe der Entscheidung18).
Die Hauptverhandlung ist beendet. Alle im Saal packen ihre Sachen. Der Angeklagte wird wieder in die Untersuchungshaft abgeführt. Die Verteidigung wird überlegen, ob sie ein Rechtsmittel (Revision zum Bundesgerichtshof) einlegen sollte.
Hanna Kraefft geht zu ihrem Zimmer, wirft ihre Robe und ihr Gesetzbuch von sich und hat das dringende Bedürfnis nach frischer Luft. Wie eine andere Welt fühlt sich draußen das Leben an. Autos, Fahrräder, Kinderwagen, Menschen mit Einkäufen, alle erledigen ihre Angelegenheiten in Freiheit. Hanna hat gemischte Gefühle. Sie ist erschöpft und bedrückt, zu nah sind noch die grausamen Details in den Berichten der Rechtsmedizin, Forensik und Psychiatrie. Zugleich fühlt Hanna Erleichterung, dass sie ihre bisher größte Anklage gemeistert hat, dass ein Mörder bestraft wird und keine abscheulichen Verbrechen mehr begehen kann.
- Wer die Einzelheiten lesen mag: https://www.true-crime-story.de/ted-bundy-utah-1976/
- Zum Gang der Hauptverhandlung § 243 StPO.
- Einzelheiten der polizeilichen Ermittlungen und die Gutachten werden nicht verlesen, sondern im wesentlichen Ermittlungsergebnis der Anklage dargestellt, das dem Angeklagten und seinem Verteidiger bekannt ist.
- Wer sich für das US-amerikanische Strafverfahren interessiert: Die zwölf Geschworenen (12 Angry Men), eindrucksvoller Spielfilm aus 1957 mit Henry Fonda, der als einer der Geschworenen in einem gruppendynamischen Prozess die Entscheidung der Jury kippt.
- § 243 Abs. 5 StPO.
- § 244 StPO.
- § 240 StPO.
- § 239 StPO.
- Wer mehr wissen möchte: D.P.Lyle, ‚CSI-Forensik für Dummies‘, 2009, S. 275 ff.; John D. Wright ‚Dem Täter auf der Spur‘, Parragon Books, S. 76ff.; Göran Schattauer,Focus-Online-Report,‚Für Auswertung ist es nie zu spät‘, https://www.focus.de/politik/sicherheitsreport/fuer-auswertung-ist-es-nie-zu-spaet-moerder-muessen-weiter-zittern-dna-spuren-auch-nach-55-jahren-lagerung-noch-lesbar_id_11228805.html
- Im Fall Ted Bundys brauchte es mehrere Strafverfahren, da er aus dem Gefängnis floh und weiter mordete. 1989 wurde er auf dem elektrischen Stuhl in Florida hingerichtet.
- § 211 Abs. 1 Strafgesetzbuch. Lebenslange Freiheitsstrafe bedeutet Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit. Nach frühestens 15 Haftjahren kann die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden, die Bewährungszeit beträgt 5 Jahre (§ 57a StGB). Mehrere lebenslangen Freiheitsstrafen wegen mehrerer Morde werden nicht addiert, selbst ein Serienmörder wird nur zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Im Urteil wird dann eine besondere Schwere der Schuld festgestellt. Das Gericht prüft nach 15 Jahren, wie viel Strafe unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit wegen der besonders schweren Schuld noch verbüßt werden muss, bis der Verurteilte auf Bewährung entlassen werden kann.
- § 63Strafgesetzbuch (StGB): Bei Schuldunfähigkeit (§ 20) oder verminderter Schuldfähigkeit (§ 21) ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist.
- In deutschen Gerichtsshows Anfang der Zweitausender Jahre (‚Richter Alexander Hold‘ und ‚Richterin Barbara Salesch‘) wurden Strafrechtsfälle nachgestellt. Die Richter, oft auch Staatsanwälte und Verteidiger, waren echte Juristen, gleichwohl haben die Gerichtsshows mit dem deutschen Strafprozess wenig zu tun. Dank der Dramaturgie – oft nach US-amerikanischem Vorbild – denken manche Zuschauer, dass Gerichtsverhandlungen hoch emotional seien und sich der Sachverhalt nur durch überraschende Wendungen aufklären lasse.
- §§ 199, 203 StPO.
- § 258 StPO.
- § 263 StPO.
- § 167 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG).
- § 268 StPO.