Autorinnenleben - Heiterkeit für Abgebrühte
Das Krimizimmer – mein erstes Mal! ... von Gudrun Bendel
„Ich war eingeladen! Ich war dabei!“ Zum ersten Mal würde ich an einem Treffen der Mörderischen Schwestern teilnehmen und echten Autorinnen begegnen. Meine Erwartungen waren riesengroß. Immerhin hatte ich gerade meinen ersten Kurzkrimi veröffentlicht. Also stand ich mit einem Blumenstrauß für die Gastgeberin an jenem Sommerabend vor fast 10 Jahren vor der angegebenen Adresse und wollte einen möglichst guten Eindruck hinterlassen.
Ich klingelte und als der Türöffner summte trat ich ein. Ich stand in einem ungewöhnlich dunklen Treppenhaus. Keine drei Meter von mir entfernt türmte sich ein Haufen Steine und Geröll. Das war doch Bauschutt? Bis ich genauer hinsah: Aus dem Steinhaufen ragte eine skelettierte, blasse Knochenhand! Und die Knochen gehörten zu einem Skelett, dass unter den Steinen verschüttet war. Ich stand vor einem Grab! Als mich eine fröhliche und herzliche Stimme von sehr weit oben aus der Schreckstarre holte: „Immer weiter, immer weiter, hier hinauf!“
Oben an der Treppe stand eine sympathische Frau mit ausgebreiteten Armen und drückte mich herzlich an sich: „Ich bin die Ingrid! Ingrid Reidel! Immer hinein in die gute Stube!“ Während sie mich durch die Wohnung führte, erzählte sie mir, dass wir heute in ihrem Allerheiligsten tagen würden: Im Krimizimmer.
Es war tatsächlich eine gute Stube, in die sie mich brachte, aber eine aus der vorletzten Jahrhundertwende: Aufgebauschte Gardinen und geraffte Samtstores verdeckten die kleinen Fenstern. Schwere Lehnstühle mit Gobelinkissen standen um einen runden Tisch aus poliertem Nussbaum. Gedeckt war der Tisch mit einer bodenlangen Spitzendecke, einem silbernen Kandelaber und funkelnden Kristallgläsern. Rund um das Zimmer standen alte Vitrinen mit Verzierungen, kleine Intarsientische und Kommoden. Fast meinte ich, Mottenkugelduft zu schnuppern. Überall lagen gehäkelte Spitzendeckchen herum und Quasten baumelten an den Schlüsseln der Vitrinen. Es war beeindruckend.
Die anderen vier Schwestern waren bereits da. Ich wurde freundlich begrüßt, aber die Damen konnten sich kaum von den Kommoden und Vitrinen losreißen. Ich spähte in die erste Vitrine und entdeckte: Die Original-Mütze von Sherlock Holmes und seine Pfeife - mit Tabakresten auf einem Silbertellerchen. Darüber war das „indische Tuch“ aus dem gleichnamigen Edgar Wallace Film ausgestellt. Mir fehlten die Worte.
Auf einem kleinen dunklen Tisch stand ein Spiegeltablett mit mehreren kleine Phiolen und Fläschchen. Ich registrierte bunte Wässerchen, Sand und Puder. Ich nahm eines der Fläschchen und studierte das Etikett, das mit Tinte in altdeutscher Schrift geschrieben war: “Strych“ Wie war das zu lesen? Ich stutzte und dachte an die Knochenhand im Steinhaufen! „Strychnin“?! Ich stellte das Fläschchen sehr vorsichtig zurück. Die Flasche daneben enthielt ein weißes Pulver und war etikettiert mit „E 605“. Die Phiole mit der Aufschrift „Arsen“ fasste ich nicht an.
In einer anderen Glasvitrine waren auf weißen Spitzendeckchen Brieföffner und dünne Messer arrangiert. Die Spitzen waren allesamt braunrot gefärbt – von getrocknetem Blut – wie uns ein kleines Schild wissen ließ. Neben jedem Stichwerkzeug lag eine kleine Karte mit Datum, Täternamen, Opfernamen und dem Tatort.
Dazu reichte Ingrid selbstgemachte Schnittchen und servierte blutroten Wein in schimmernden Kristallkelchen. In einer dunklen Ecke baumelte am eigenen Haar aufgehängt, ein kleiner Puppenkopf von der Decke herab. „Sehr originelle Dekoration“ lachte ich „etwas gruselig aber auch sehr kreativ.“ Ich trank einen großen Schluck und fragte mich, wer solche hässliche Puppenköpfe herstellte. So etwas hatte ich doch schon mal gesehen. Dann fiel es mir wieder ein: im Naturkundemuseum – in der Abteilung für indigene Völker Südamerikas! Das war kein Puppenkopf! Das war ein Schrumpfkopf! Ich begab mich ans andere Ende des Zimmers.
Die Wand hinter dem dunkelroten Sofa aus Samt war bestückt mit schwarz-weißen Porträtfotos der großen Kriminalschriftsteller und Autorinnen des letzten Jahrhunderts. Ich erkannte Agatha Christie und Arthur Conan Doyle, Wilkie Collins und Edgar Allan Poe. Aber leider hatte Ingrid auch Fotos der bekanntesten Mörder und Serienmörder dazu gehängt. Irgendwie hatten die schon einen ganz besonderen Ausdruck in den Augen.
„Nehmt doch Platz und lasst es euch schmecken!“ komplementierte Ingrid uns in die plüschigen Kissen. Wir tauten auf, genossen die Schnittchen und den Wein. Es wurde ein wunderbarer Abend. Wir fachsimpelten, lachten viel und schmiedeten Pläne. Ich entschuldigte mich, um kurz die Toilette aufzusuchen. Ingrid schickte mich ins Bad: „über den Flur an die Tür am Ende des Ganges“. Ich folgte ihren Anweisungen und öffnete beschwingt die Badezimmertür. Ich fand den Lichtschalter und erschreckte mich bis in die Haarspitzen. In der Badewanne lag ein Mann, bäuchlings mit dem Gesicht über dem Abfluss und seine Füße baumelten über den Wannenrand. Im Rücken steckte ein riesiger Dolch. Das Blut hatte sein Hemd durchtränkt. Ich machte auf dem Absatz kehrt und kehrte mit eiskalten Händen aus dem Horror-Bad in die gute Stube zurück!
Wilhelm, so heißt die lebensgroße Puppe mit dem Dolch im Rücken hat uns dann noch viele Jahre bei unseren Lesungen begleitet. Man muss ihm immer die Hosenträger nachziehen. Ingrid hat sehr viel Humor und liebt es, zu dekorieren. Ich lernte das später bei unseren gemeinsamen Lesungen noch sehr zu schätzen! Von Rudi, dem Gerippe im Hausflur nahmen wir oft nur den Schädel und eine Hand mit, immer das Geröll wegzuräumen war zu mühsam. Aber damals, bei meinem ersten Treffen mit den Mörderischen Schwestern in Ingrids Krimizimmer war ich doch nahe an der Hysterie.
Ich erinnere mich noch, dass Ingrid meinen Blumenstrauß an diesem Abend auf einen der Tische stellte, neben andere Gefäßen. Eine der bauchigen Vasen hatte einen auffälligen Deckel. Ich verschlucke mich fast an einem Bissen Kuchen als Heidi Moor-Blank fragte: „Ingrid, dass da drüben, das ist doch gar keine Vase?“ Unsere Gastgeberin schenkte gerade Wein nach: „Das grüne Gefäß dort? Nein, das ist keine Vase, das ist eine Urne!“ konstatierte Ingrid. „Ja, ja natürlich, das sieht man ja“, hörte ich rechts von mir Chris Silberer kichern! „Ja und da ist bestimmt auch was Schönes drin oder Ingrid?“ fragte Rita Hausen lachend von links. Wir lachten und wurden sehr still, als wir Ingrids Gesicht sahen. „Ingrid, w a s ist da drin?“ flüsterte Petra Scheuermann. Langsam stand Ingrid auf und nahm die Urne würdevoll auf den Schoß, „Was glaubt ihr denn? Also ich würde doch eine Urne nicht zweckentfremden, das wäre ja pietätlos.“ Wir atmeten auf. „Da ist die Asche von Tante Martha drin!“
Die Urne gibt es noch immer. Die Asche ist mittlerweile an einem dafür vorgesehenen, geweihten Ort. Das Krimizimmer gibt es leider nicht mehr, obwohl es zeitweilig sogar eine eigene Homepage hatte. Man konnte es mieten für kleine Gesellschaften und Feiern. Wir erinnern uns mit Wehmut an unsere wunderbaren Treffen im Krimizimmer. Die Geschichte mit der Urne allerdings fing damals gerade erst an.
Ingrid Reidel ist die Preisträgerin des Deutschen Kurzkrimipreises 2017 und Schwester der Regiogruppe Rhein-Neckar.