Die Lebenden und die Toten

von Katharina Eigner

Ich liebe Friedhöfe. Um nicht durch grundloses Herumstrolchen unangenehm aufzufallen, bepflanze ich neuerdings das Familiengrab. Und gieße sogar (ab und zu). Meiner Familie ist dieses plötzliche Interesse natürlich nicht entgangen. Logisch, sagen sie milde lächelnd, du schreibst ja Krimis. Wer über den Tod schreibt, muss sich bei Toten aufhalten, so ihre Theorie. Ha! Weit gefehlt!

Friedhofsbesuche sind mehr als Grabsteinlektüre. Selbst der skurrilste Name ist nichts gegen das Angebot der Lebenden. Ein Friedhof ist nicht nur letzte Ruhestätte, er ist Inspiration und Bühne. Ein Mikrokosmos mit Struktur.

Die veritable Trauer um Verstorbene bildet hier nur einen Bruchteil des Geschehens und ist von unterstehenden Beobachtungen ausgenommen. Ansonsten hat am Friedhof alles seinen Platz. Und alles zu seiner Zeit.

 

Der Frühling gehört den GärtnerInnen und den Plaudertaschen. Die Palette reicht vom bloßen Neubepflanzen mit den obligaten Narzissen bis zum Grabsteinschrubben und Unkrautzupfen. Spröde Plastik-Gießkannen werden ausgetauscht. Modebewusste stechen aus der grünen Gießkannenmasse hervor und tragen mutig Gelb oder Pink. Die Buschtrommeln schlagen wieder: Wer hat wo überwintert, welche Ehe hat die Weihnachtsfeiertage nicht überstanden und warum erfährt man das erst jetzt?

Der Sommer ist – botanisch gesehen – die Königsdisziplin der GrabbesucherInnen. Wer outet sich als BlumenexpertIn und hat, je nach Standort, Sonnen- oder Schattenliebhaber gepflanzt?

Wer hat das beste Grabbewässerungsnetzwerk? Sprich Familienangehörige und NachbarInnen, die sich bereitwillig im Schichtdienst durch die Urlaubssaison gießen. Die Anzahl der verdorrten Gräber Ende August ist ein Streit-Barometer. Wer pflanzt seit Jahren Efeu, um sich vor intensiver Pflege zu drücken? Und warum? Posthume Rache für entgangenes Erbe?

Der Herbst ist die Zielgerade vor Allerheiligen: Inschriften werden poliert, Graberde-Säcke geschleppt, Heidekraut gepflanzt und Kerzen erneuert. Wessen Grab jetzt ungepflegt bleibt, war nicht beliebt. Oder allein. Die Abende werden kürzer und das Plaudern weniger.

Zu Allerheiligen verlagert sich das Dorfleben ein letztes Mal vor dem Winter auf den Friedhof. Ich korrigiere mich: zuerst zum Friseur, dann auf den Friedhof. Denn frisch gefärbtes Haupthaar, möglichst in leuchtenden Nuancen, ist ein kalkulierter Blickfang zwischen Grabsteinen und dunkler Garderobe. Man bedenke: Dreißig Minuten Gräbersegnung wollen optimal genutzt sein! Wer Herbstgarderobe, Grabgestaltung und neuen Schwiegersohn der versammelten Gemeinde präsentieren will, hat jetzt die Chance dazu. Prime-Time, sozusagen.

Bis Weihnachten wird es ruhig am Friedhof. Es gibt wenig zu tun und noch weniger zu erzählen, denn die größten Familienkrachs ereignen sich erst während der Feiertage, wenn die Erwartung groß und der Platz um den Christbaum eng ist.

Am Heiligen Abend funkeln neue Ohrringe und Grabkerzen um die Wette, werden neue Handtaschen und alte Pelze ausgeführt.

Im Jänner und Februar ist es still, und das ist gut so. Schließlich muss ich mir erst überlegen, ob ich wieder Narzissen pflanze.