Angenommen, alle bleiben daheim ...

von Katharina Eigner

…haben plötzlich mehr Zeit als gedacht, die Kamera am PC ist das Fenster zur Welt und ich starre noch immer ins falsche Eck beim Skypen.

Nach hektischem Haare-zurecht-Zupfen und Räuspern meinerseits erscheint auch schon mein lieber Freund und Schreibkollege Dani am Bildschirm. Er sieht blass aus. „Da bist du ja!“

Dani hockt im Schneidersitz auf seinem Sofa, umgeben von akkuraten Bücherstapeln, pittoreskem Obst-Stillleben in einer Alessi-Schüssel und prachtvollen Orchideen. Seit Corona unser Leben auf das Nötigste eingedampft hat, ist seine Wohnung aufgeräumter denn je. Bei der Kulisse für unsere virtuellen Treffen überlässt er nichts dem Zufall.  

„Sehen wir´s mal so“, sage ich, während er einen imaginären Fussel von seiner blütenweißen Couch fegt, „die Lage ist wirklich ernst und wir müssen unsere Gewohnheiten ändern. Abstand halten. Auf einander achten. Aber abgesehen davon ist die momentane Situation ein wahrer Fundus für Krimiautor*innen.“

„Also, ich weiß nicht“, jammert er. „Die Biotope, in denen ich üblicherweise nach Charakteren für meine Plots fische, sind momentan tabu. Ausgangsbeschränkungen, Quarantäne…und jetzt auch noch Lagerkoller! Ich bin fix und fertig!“

Lässt sich nicht leugnen; der Gute ist ein Schatten seiner selbst. Dani schüttelt missmutig den Kopf. „Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber es hat mich erwischt.“

Betroffen starre ich auf den Bildschirm. „Du meinst…?“

„Ja! Schreibblockade! Mein Bewegungsradius ist auf ein Minimum beschränkt, der Terminkalender leer radiert. Endlich Zeit zum Schreiben, eigentlich. Statt dessen: Kreativitätsleck. Es ist zum Verzweifeln!“ Dani wiegt den Oberkörper vor und zurück, seine Stimme wechselt in den Klageweib-Modus. Er vermisse die Freiheit, den Kontakt zur Außenwelt. Fühle sich eingeengt. Ohne Feldstudien könne er nicht arbeiten, wiederholt er gebetsmühlenartig.

„Nicht immer müssen Feldstudien draußen stattfinden“, unterbreche ich ihn nach zwei Stunden, in denen ich mich vorsichtig vom Bildschirm entfernt habe um Wäsche aufzuhängen, den Hund Gassi zu führen und das Auto zu waschen. „Vom psychologischen Standpunkt betrachtet“, versuche ich seine Aufmerksamkeit zu ködern „verstärkt diese Krise nur die verschiedenen Eigenheiten des menschlichen Charakters.“

„Möglich“, murmelt er abwesend und schlichtet die Äpfel in der Obstschüssel zum dritten Mal. In dieser Minute.

„Ganz sicher sogar! Nicht alle gehen mit dieser Virus-Sache gleich um, weißt du?“, fahre ich fort und teile ihm meine Beobachtungen der letzten Tage mit. „Da sind die Verschwörungstheoretiker, die glauben, der verhasste Nachbar habe das Virus in einem Geheimdienst-Workshop gezüchtet. Die Unbelehrbaren, die nicht daheim bleiben, weil sonst das Abo im Swinger-Club verfällt. Die Panischen, die sich hinter dem Vorhang verstecken, wenn der Postbote Briefe vor die Tür legt. Die Philosophen, die froh sind, endlich allein in einem Fass wohnen zu dürfen.“ Dani lauscht ergriffen. Vielleicht ist er aber auch nur heiser vom Klagen.

„Die ganze Bandbreite an menschlichem Verhalten, was auch immer du suchst: alles da! Inspiration pur! Du musst es nur sehen, Dani!“

„Ach, ihr Frauen seid so herrlich praktisch orientiert! Ich beneide euch!“ Schon wieder werden seine Augen feucht.

„Man nehme, was man hat!“ zitiere ich meine Großmutter. „Und du kannst das auch!“

„Ja?“ Sein Gesicht nimmt langsam Farbe an, die Augen funkeln. Er ist wieder in the zone.

„Ja! Und wegen der Schreibblockade: wie wärs mit einer neuen Herangehensweise?“, schlage ich ihm vor. „Nicht whodunit, sondern whydunit, wie schon die gute…“

„…Patricia Highsmith sagte“, vollendet er brav. Er schickt mir eine Kusshand. „Ich wusste, du bist mein Rettungsanker! Übrigens: wie gefällt dir das?“, grinst Dani und zeigt auf die Wand hinter sich. Michelangelos „Erschaffung Adams“, überdimensional. Anscheinend Danis Neuerwerb.

„Seit wann stehst du auf Kunstdrucke?“ Ich schaue genauer hin. Michelangelos Opulenz der Hochrenaissance in Beige-, Vanille-und Pfirsichtönen. Mit Blümchenprägung. „Ist das…?“

„Eine Collage. Zellstoff aus Kiefern, Fichten und Birken. Bienenwabenartige Siebstruktur. Gebleicht und geprägt. Dreilagig.“  

„…Klopapier???“

Dani grinst. „Ich gehöre zur letzten Gruppe: Dekorateure, die sich zu helfen wissen.“