Vom Auffinden der Leiche bis zur Verurteilung des Mörders - Teil 4 - Vernehmung der Beschuldigten
von Susanne Rüster

Was bisher geschah: Die (fiktive) Inhaberin des Pralinchen-Cafés, eine private Ermittlerin, stolpert über eine Leiche in ihrem Kaffeehaus. Die Spuren sind genommen, die Forensik arbeitet sich daran ab, die Identität des Toten zu klären. Die Kaffeehaus-Inhaberin erholt sich vom überfallartigen Eindringen des polizeilichen „Erstangriffs“ beim Backen ihrer Biscotti alle Mandorle, die sie an ein italienisches Lokal verkauft. Dabei fällt ihr ein, dass sie den Toten neulich beim Italiener gesehen hat. Mit einer Aktentasche und ernstem Gesicht ging er mit dem Chef ins Hinterzimmer.
Agatha Christie soll ihre besten Morde in der Küche geplant haben. Warum soll das nicht auch für eine geniale Idee bei der Mördersuche gelten?, denkt die Besitzerin des Pralinchen-Cafés. Beim Biscotti-Verkaufsgeschäft wird sie unauffällig nach dem Mann mit der auffälligen Warze am Mund fahnden.
Als sie mit den warmen Mandelplätzchen auf die Straße tritt, kommen ihr die beiden unfreundlichen Polizisten vom Erstangriff entgegen.
„Wollen Sie meine Biscotti probieren?“, sagt sie gut gelaunt. Wenn schon ein Mord im eigenen Haus passiert, sollte man auch seinen Spaß daran haben.
„Kein Bestechungsversuch“, sagt der Größere.
Gucken die beiden so grimmig, weil sie sich von ihrem schmalen Polizistengehalt keine guten Kekse leisten können?
„Wir müssen Sie leider mitnehmen.“
„Sie haben mich heute früh schon ausgequetscht. Jetzt muss ich meine Mandelkekse zum Italiener bringen.“
„Die Rechtsmedizin hat Reste von Mandelkeksen im Magen der Leiche festgestellt.“ Der kleinere Polizist grinst. „So ein Zufall!“
Die private Ermittlerin ringt nach Worten, was selten vorkommt. „Sie meinen, der Herr schleicht sich herein, nascht heimlich von meinen Mandelkeksen, die ich mit Blausäure gefüllt habe, und hat dann die Frechheit, sich als Leiche in meinem Café zu platzieren? Geht‘s noch?!“ Ihre Stimme wird schrill.
„An der Leiche wurden Anhaftungen von Ihrer Strickjacke gefunden“, sagt der Größere, bemüht um Freundlichkeit. Hält er sie etwa für eine empfindliche, alte Dame? „Außerdem gibt‘s Fingerabdrücke und Blutspuren, die nicht vom Toten stammen.“
„Meine Jacke fusselt. Das ist kein Verbrechen“, sagt sie aufgebracht. „Blut von mir kann am Toten dran sein, weil ich mich beim Obstsalat-machen in den Finger geschnitten habe.“
„Das können Sie alles auf dem Revier erzählen.“
Wenig später sitzt die Inhaberin des Pralinchen-Cafés auf einem Plastikstuhl im Polizeirevier und mustert den karg eingerichteten Raum. Zwei aneinander gestellte Tische mit PC, an der Wand eine Landkarte und eine Tafel mit angepinnten Schmierzetteln.
„Kann ich Ihren Ausweis haben?“, fragt die Kommissarin, eine junge Frau mit rostrotem Pferdeschwanz und wachem Blick.
„Hab ich nicht bei. Ich wollte meine Mandelkekse zum Italiener bringen. Der kennt mich.“
Die Kommissarin wirft einen Blick zu dem gegenüber sitzenden Kollegen, dessen Brillen-Gesicht zur Hälfte hinter dem Bildschirm auftaucht.
„Okay, Mitführungspflicht is‘ nicht“, sagt der gnädig.
Die Kommissarin lässt sich die Personalien geben, ihr Kollege tippt etwas ein und sagt dann: „Aha, ich hab Sie.“
So schnell kriegt ihr mich nicht, denkt die Kaffeehaus-Inhaberin.
„Sie stehen im Verdacht ein Tötungsdelikt begangen zu haben.“ Die Kommissarin blickt sie ernst an. „Es steht Ihnen frei, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder …“
„Kenn ich alles. Bin Krimi-Liebhaberin.“
„Wir sind kraft Gesetzes verpflichtet, Sie auf Ihre Rechte hinzuweisen.“ Der Mann gegenüber schwenkt eine Loseblattsammlung im roten Deckel durch die Luft. „Hier: Paragraph 136 Strafprozessordnung.“
Wenn sie es nicht so eilig hätte, würde die Privatermittlerin sich über ihren Besuch auf dem Polizeirevier amüsieren.
„Bei Beginn der Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und …“
„Ich bin nicht der Beschuldigte, sondern die Beschuldigte“, unterbricht sie den deklamierenden Amtsträger. „Eigentlich bin ich gar keine Beschuldigte. Ich habe nämlich nichts …“
„Jetzt reichts!“ Die Kommissarin, die gerade einen Schluck kalt gewordenen Kaffee getrunken hat, stellt ihren Becher krachend auf den Tisch.
Die Privatermittlerin mustert die Tasse: Die rückwärtige Seite einer Polizistin in Uniform mit rostrotem Pferdeschwanz, daneben in Schreibschrift der Name Lydia.
Das Interesse ihres Gegenübers am Tassen-Aufdruck bringt die Kommissarin noch mehr in Rage. „Es heißt DER Beschuldigte, auch bei Frauen. Weil die Strafprozessordnung nicht gegendert ist. Die ist nämlich sehr alt.“
„1879“, wirft die Privatermittlerin lässig in die Runde.
„Was man als Krimi-Leserin so alles weiß“, sagt der Kommissar ironisch und fährt fort, den Paragraphen 136 vorzulesen. „Der Beschuldigte ist darauf hinzuweisen, dass es ihm freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit einen von ihm zu wählenden Verteidiger …“
„Können Sie den Paragraphen vielleicht zusammenfassen?“ Die Finger der privaten Ermittlerin trommeln auf dem Plastikstuhl. Als Inhaberin eines alteingesessenen Kaffeehauses, die sich nie etwas hat zuschulden kommen lassen, will sie nicht auf ihre alten Tage als Verdächtige in einen Mord verwickelt werden.
„Okay“, raunzt der Strafverfolger. „Also: Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen …“ Er blättert laut in der Loseblattsammlung. „Es kommen noch mehr Paragraphen, die schenken wir uns. Aber jetzt das Wichtigste…“: Vielsagender Blick über die Brillengläser zur Kaffeehaus-Inhaberin, die ein Schnarch-Geräusch unterdrückt. „Die Vernehmung ist in Bild und Ton aufzuzeichnen, wenn ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt …“
„Bin ich jetzt mal dran? Ihre Beschuldigung ist absurd!“ Die private Ermittlerin schüttelt heftig den Kopf.
„Wie kommen Ihre Mandelkekse in den Magen des Toten?“ Die Kommissarin klopft mit dem Stift auf den Tisch.
„Man kann meine Biscotti alle Mandorle kaufen. Vielleicht war der Herr ein Keks-Liebhaber.“
Wie eine Mörderin sieht die Alte nicht aus, denkt die Kommissarin. „Die Mandelkekse im Magen des Toten waren nicht vergiftet. Hat die Rechtsmedizin festgestellt.“
„Oh danke, dass Sie mich nicht für eine heimtückische Giftmörderin halten. Ich könnte Ihnen viel über Giftpflanzen erzählen. Aber ich verbacke sie nicht in meinen Keksen.“
„Der Mann ist erschossen worden“, sagt die Amtsträgerin, offensichtlich stolz auf den Ermittlungserfolg.
„Ich habe natürlich auch ein paar scharfe Waffen in der Schublade.“ Vielleicht hilft Ironie, denkt die Kaffeehaus-Besitzerin. „Ich muss jetzt dringend mit meinen Biscotti zum Italiener.“
„Nicht so schnell.“ Die Kommissarin gibt ihrem Kollegen einen Wink, dass er sich in die Tür stellen soll.
„Sie meinen, ich erschieße einen Mann im Wald und schleife ihn dann durch die Hintertür in mein Café? Ich bin 1,58 Meter groß und wiege 52 Kilo. Der Tote war mindestens 1, 90 Meter.“
Der Kommissar an der Tür mustert die zierliche Gestalt.
„Vielleicht haben Sie dem Täter die Tatwaffe verschafft“, ruft er. „Für Beihilfe zum Mord gibt‘s mehrere Jahre.“
Die private Ermittlerin fühlt wie Wut in ihr hochsteigt. Sie will hier raus!
„Es besteht auch der Verdacht, dass sie dem Täter geholfen haben, die Leiche beiseite zu schaffen“, flötet die Kommissarin. Sie hat auch so eine rot eingebundene Loseblattsammlung auf ihrem Schreibtisch. „Das ist Strafvereitelung. Paragraph 258 des Strafgesetzbuches.“
„Bitte nicht vorlesen“, sagt die Kaffeehaus-Besitzerin und fügt mit einem triumphierenden Blick hinzu: „Ich gebe Ihnen mal einen Tipp.“ Ihr Wissen über den Besuch des nunmehr toten Herrn beim Italiener wollte sie eigentlich für sich behalten, um bei ihren Nachforschungen nicht von der Polizei ausgebremst zu werden.
„Und der Tipp wäre?“, fragt der Kommissar spöttisch, aber auch interessiert.
„Der Tote hat sich bei irgendjemand unbeliebt gemacht. Um seine Spur zu verwischen, hat der Mörder die Leiche in mein Café gelegt. Nachts. Ich hatte versehentlich die Hintertür nicht abgeschlossen“, erklärt sie geduldig.
Der die Tür bewachende Kommissar schnaubt.
„Wer immer diesen Mord begangen hat, wollte, dass ich die Verdächtige bin. Ich bin die einzige Biscotti-Produzentin in der Gegend.“
Nicht ganz von der Hand zu weisen, denkt die Kommissarin, während sie ihre Beschuldigte nachdenklich anstarrt. Eigentlich wirkt die Frau ehrlich. Aber vielleicht ist sie eine begnadete Schauspielerin? „Da alles so verworren ist, werden wir Sie dem Haftrichter vorführen. Der entscheidet dann, ob Sie freikommen.“
„Holen Sie ihn schnell! Dann schaffe ich es noch mit meinen Biscotti…“
„Der Haftrichter residiert im Amtsgericht. Und das ist zwanzig Kilometer entfernt.“
Der Amtsträger an der Tür blickt demonstrativ auf die große Uhr an der Wand. „Punkt vier.“
„Wie?“ ruft die Kaffeehaus-Besitzerin in Rage. „Sie bringen mich jetzt sofort mit Ihrem schnellsten Dienstfahrzeug zu diesem Richter. Sonst können Sie was erleben. Ich bin sehr gut vernetzt. Googeln Sie das mal!“
Meine schönsten Mandel-Zucker-Erscheinungen.