Forensische Entomologie
Forensische Entomologie oder die kriminalistisch angewandte Insektenkunde auf Leichen
Besuch der zoologischen Staatssammlung München am 28.6.2017
Eine Zusammenfassung diverser Fachvorträge von Rosemarie Benke-Bursian
1) Zoologische Staatssammlung in München
Die Zoologische Staatssammlung München (ZSM) ist in erster Linie eine Forschungsstation und gehört nicht nur in Deutschland zu den größten zoologischen Forschungsmuseen, sondern ist auch international eine der größten naturkundlichen Forschungssammlungen. Mit ca. 11 Millionen Arten beherbergt sie zudem die größte Schmetterlingssammlung der Welt.
Die einzelnen Objekte wurden in der über 200jährigen Geschichte des Hauses zusammengetragen und die Sammlung wird auch noch heute permanent ergänzt und erweitert, sei es durch Schenkungen, durch Erbschaften oder auch durch den Ankauf von Sammlungen großer Naturforscher und nicht zuletzt durch Forschungs- und Sammelreisen von wissenschaftlichen und technischen Mitarbeitern.
Der in diesen Sammlungen steckende Informationsgehalt wird im ZSM systematisch ausgewertet, wobei die Forschungsschwerpunkte auf die Taxonomie (Klassifikationsschema), die phylogenetische Systematik (biologische Systematik im Rahmen der Evolution), die Morphologie (Struktur, Gestalt, Form, Aufbau der Lebewesen) sowie die Biodiversität (biologische Vielfalt) des Tierreichs liegen.
Mit Hilfe dieser Sammlungen werden neue Tierarten beschrieben, Verwandtschaftsverhältnisse geklärt, die Verbreitung der einzelnen Arten dokumentiert und vieles andere mehr.
Seit 2009 wird - im Rahmen eines Sonderprogramms – zudem ein molekularer Katalog aller ca. 35.000 bayrischen Tierarten erstellt: das „Barcoding Fauna Bavarica“, sozusagen eine molekulare „Bibliothek des Lebens“, die weltweit große Beachtung findet. Dieser Katalog soll auch Grundlage für eine deutschlandweite Katalogisierung bilden.
Beim Barcoding wird die DNA eines Markergens – der mitochondrialen Cytochrom Oxidase 1 = MT-CO1 bzw. CO1 (ein Enzym der mitochondrialen Atmungskette) – sequenziert und die jeweilige Abfolge der DNA-Basenpaare (A, G, C, T) analog dem Strichcode bei Lebensmitteln der entsprechenden Art zugeordnet.
Die ZSM ist kein Museum mit Dauerausstellungen und hat damit auch keine öffentlichen Öffnungszeiten. Ausnahmen sind Sonderausstellungen und der Tag der offenen Tür, der jährlich im Oktober/November stattfindet (2017 am Sa 18.11.)
2) Forensische Entomologie: Definition und Basiswissen
Die forensische Entomologie ist die kriminalistische Insektenkunde und damit Teil der Forensik (systematische Untersuchung krimineller Handlungen). Die forensische Entomologie dient der Aufklärung von Todeszeitpunkt und möglicher Todesumstände anhand der Leichenbesiedlung durch Insekten.
Im Mittelpunkt stehen dabei all jene Insekten, die einen toten Körper als Nahrungsquelle, zur Eiablage nutzen (nekrophage Insekten) und solche, die von den „Siedlern“ angelockt werden, da sie sich von ihnen ernähren (nekrophile Insekten).
Die Rechtsmedizin hat in den ersten 48 bis 72 Stunden zahlreiche Möglichkeiten, den Todeszeitpunkt zu ermitteln. Dazu gehören die Ausprägung von Totenflecken, Körpertemperatur, Leichenstarre, elektromuskuläre Tests sowie diverse biochemische Untersuchungen. Diese Werte werden mit der Umgebungstemperatur, dem Gewicht des Leichnams, der Bekleidungs- bzw. Bedeckungsart des Körpers verglichen, um dann unter Zuhilfenahme diverser Korrekturfaktoren den Todeszeitpunkt einzugrenzen.
Doch diese klassischen Methoden sind nach fortschreitender Gewebeerweichung und Strukturauflösung (Autolyse), nicht mehr anwendbar, was üblicherweise nach etwa 48 bis 72 Stunden der Fall ist.
Über die Besiedlung der Leiche durch nekrophage Insekten kann dagegen selbst mehrere Wochen nach dem Todeszeitpunkt eine Berechnung der Mindestliegezeit, des sogenannten Post Mortem Intervalls (PMI), bis auf den Tag genau möglich sein. Die Art der Insekten gibt auch Aufschluss darüber, ob der Fundort der Leiche dem Tatort entspricht bzw. ob sie verlegt wurde.
Darüber hinaus kann der Nachweis von Drogen, Giften, Medikamenten oder auch die Identifizierung menschlicher DNA in diesen Insekten über die Todesumstände Auskunft geben, bzw. ein Ansatz für weitere kriminalistische Untersuchungen sein.
Eine für Insekten zugängliche Leiche wird bereits in den ersten Stunden nach Todeseintritt von den ersten Arten besiedelt. Das sind vor allem Fliegen, die den Leichnam zur Eiablage nutzen. Zielorte für die Eiablage sind dabei in erster Linie die Körperhöhlen: Mund, Nase, Ohren, Augen sowie die Öffnungen im Genitalbereich, soweit frei liegend. Die geschlüpften Larven, die insgesamt drei Stadien durchlaufen, nutzen den Leichnam als Nahrung und kriechen erst davon, wenn sie sich verpuppen wollen.
Mittlerweile sind längst weitere nekrophage Insekten an der Leiche zu finden, denn die verschiedenen Insektenarten besiedeln eine Leiche zu unterschiedlichen Verwesungszeitpunkten. All diese Arten haben verschieden lange Entwicklungszyklen.
Die Gesamtzusammensetzung der Insektenarten, Larven und Puppen gibt demnach Aufschluss darüber, wie lange die Leiche schon gelegen ist. Das älteste Stadium der Erstbesiedler liegt dem tatsächlichen Todeszeitpunkt am nächsten. Eine Altersbestimmung der Larven bzw. Maden erfolgt über ihre Größe.
Auch hierbei ist der Abgleich mit den sonstigen Umständen wie Temperatur, Feuchtigkeit usw. wichtig, denn die beeinflussen nicht nur den Verwesungsgrad der Leiche, sondern auch die Entwicklungsgeschwindigkeit der Larven bzw. die Zyklusdauer der einzelnen Insekten.
Insekten sind wechselwarme Tiere und daher von ihrer Umgebungstemperatur abhängig. Unterhalb eines arttypischen Temperaturschwellenwertes fallen sie in Winterschlaf bzw. machen eine Entwicklungspause, die Made stellt die Nahrungsaufnahme ein und nimmt sie erst wieder auf, wenn die Temperatur wieder steigt. Das kann in kalten Jahreszeiten zu besonders langen bzw. auch unterbrochenen Zyklusphasen führen.
Bei der Schmeißfliege dauert es z.B. bei einer Temperatur von 30° C nur sieben Tage bis sich die frisch geschlüpfte Made verpuppt. Liegt die Temperatur aber bei 12° C braucht sie für die gleiche Entwicklung mehr als einen Monat oder aber die Larve stirbt sogar ganz ab. In strengen Wintern findet somit gar keine Insektenbesiedlung statt. Daher kommt die forensische Entomologie hauptsächlich in den wärmeren Jahreszeiten zum Einsatz.
Sind alle Daten gesammelt, lässt sich das PMI, also die Liegezeit der Leiche, anhand eines Diagramms, in dem die Daten in Bezug auf Art, Temperatur und der Zeit dargestellt sind, direkt ablesen.
An einer Leichenbesiedlung sind typischerweise folgende Insekten beteiligt, wobei die Schmeißfliegen die Besiedlung beginnen:
1) Schmeißfliegen
2) Ameisen
3) Hausfliegen
4) Dungfliegen
5) Wespen, Bienen
6) Fleischfliegen
7) Kurzflügelkäfer
8) Käsefliegen
9) Buckelfliegen
10) Buntkäfer
11) Speckkäfer
12) Erdkäfer
Während Schmeißfliegen eine Leiche bevorzugen, bei der die Verwesung gerade beginnt, legen Käsefliegen ihre Eier erst ab, wenn der Verwesungsprozess bereits fortgeschritten ist und Speckkäfer bevorzugen ein Stadium, in dem die Leiche bereits wieder zu trocknen beginnt. Ameisen und Käfer können mit ihren kräftigen Mundwerkzeugen auch harte Teile oder ausgetrocknete Leichen, die für Fliegen zu hart sind, zerstören bzw. für Fliegen zugänglich machen.
Auf Tierkadaver sind insgesamt schon über 500 nekrophage Arten gefunden worden.
3) Forensische Entomologie: Praktischer Ablauf
Nach dem Auffinden einer Leiche, die mit Insekten besiedelt ist, wird eine umfassende Fotodokumentation angelegt. Anschließend werden die Insekten eingesammelt und abgetötet, um sie später bestimmen zu können.
Die Larven werden dagegen eher lebend sichergestellt, denn sie können nur schwer und nicht eindeutig einer bestimmten Art zugeordnet werden. Sie werden im Labor zum fertigen Insekt weiterentwickelt, an dem dann die Artbestimmung vorgenommen werden kann.
Zur Feststellung der exakten Art ist eine Bestimmung unter dem Mikroskop notwendig, denn viele artspezifische Merkmale reduzieren sich auf die Anwesenheit oder Abwesenheit von lediglich ein paar Borsten an einer bestimmten Stelle und ähnlich schwer erkennbaren Zeichen, was nur spezialisierte, erfahrene Entomologen (Insektenforscher) eindeutig erkennen können.
Daher benötigt eine Todeszeitpunktfeststellung mittels Insektenbesiedlung im Schnitt etwa zehn Tage, denn selbst unter optimalen Bedingungen dauert es viele Tage bis das fertige Insekt (Imago) schlüpft. Dazu kommt die aufwendige Bestimmung nicht nur eines Insektes, sondern eines ganzen Schwarms.
Für die polizeiliche Ermittlung ist eine solche lange Zeit natürlich nicht förderlich.
4) DNA-Barcoding in Kombination mit der Next-Generation Sequencing revolutioniert die forensische Entomologie
Die Arbeit der ZSM zum „Barcoding Fauna Bavarica“, bietet die Möglichkeit Artbestimmungen wesentlich zu beschleunigen. Mit Hilfe dieses DNA-Barcoding werden auch die Insekten über den artspezifischen DNA Abschnitt, dem mitochondrialen CO1 Gen, katalogisiert.
Kennt man von einem Insekt also den Barcode des CO1 Gens, kann man anhand des Kataloges seine Art feststellen - vorausgesetzt das Insekt wurde bereits katalogisiert.
Da diese Methode sich auch für die forensische Entomologie eignet, arbeitet die ZMS seit vielen Jahren in Kooperation mit dem Kriminaltechnischen Institut des bayrischen Landeskriminalamts (BLKA) an einer genetischen Referenzdatenbank für forensisch relevante Insekten. Diese Datenbank umfasst bereits eine Vielzahl an typischen nekrophagen Insekten, die aus Versuchen mit Schweinekadavern stammen.
Über das DNA-Barcoding kann die Aufzucht der Larven und die morphologische Artbestimmung unter dem Mikroskop entfallen, es reicht, die mitochondriale DNA der Insektenlarve zu untersuchen. Dazu wird die DNA aus den Mitochondrien isoliert und mittels einer speziellen Methode, der Polymerase-Kettenreaktion (PCR), vervielfältigt – das ist notwendig, da erst viele Kopien so viel Material ergeben, dass der spätere genetische Abdruck auch sichtbar gemacht werden kann. Anschließend kann die DNA sequenziert werden, das heißt die Basenabfolge in der DNA, also der Barcode des CO1, kann in Form ihrer Anfangsbuchstaben (A, G, C, T) abgelesen und dann einer Insektenart eindeutig zugeordnet werden.
Seit einigen Jahren gibt es für die Sequenzierung eine noch raschere Methode: das Next-Generation Sequencing (NGS). Bei dieser Hochdurchsatz-Sequenzierung können parallel Millionen von DNA-Fragmente sequenziert werden.
Für die forensische Entomologie bedeutet dies, dass sie die Gesamtheit aller auf einer Leiche befindlichen Insekten auf einen Schlag sequenzieren kann. Das Trennen der einzelnen Insekten und die Einzelanalyse entfällt, man kippt einfach die gesamte Mischung in das Analysegerät, das als Ergebnis die Barcodes sämtlicher Insekten ausspuckt, welche die Leiche besiedelt haben, wodurch eine zusätzliche Beschleunigung der Artenbestimmung erreicht wird.
Die forensischen Entomologen müssen anschließend die Barcodes nur noch mit dem genetischen Katalog für forensisch relevante Insekten abgleichen und können dann über die Arten und den übrigen Daten - Entwicklungsstadium, Temperatur und Co. - das PMI und damit den vermutlichen Todeszeitpunkt bestimmen.
Das DNA-Barcoding und die NGS revolutionieren übrigens derzeit nicht nur die Forensik.